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Miss Lonelyhearts

Miss Lonelyhearts

Titel: Miss Lonelyhearts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathanael West
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gekürt und Steve und Jud zu seinen Gehilfen. Während sie das Lamm festhielten, kauerte sich Miss Lonelyhearts darüber und begann zu psalmodieren.
    «Christus, Christus, Jesus Christus. Christus, Christus, Jesus Christus.»
    Als sie sich in Ekstase gesteigert hatten, stieß er mit dem Messer kräftig zu. Der Hieb war ungenau und hinterließ eine Fleischwunde. Er hob erneut das Messer, und da sich das Lamm heftig wehrte, verfehlte er es diesmal ganz. Das Messer brach auf dem Altar. Steve und Jud zogen den Kopf für ihn nach hinten, damit er ihm die Kehle durchsägen könnte, doch in dem Griff steckte nur noch ein kurzes Stück Klinge, und er war außerstande, durch die verfilzte Wolle hindurch zu schneiden.
    Ihre Hände waren mit schleimigem Blut bedeckt, und das Lamm entschlüpfte ihnen. Es kroch in das Unterholz davon.
    Als die helle Sonne den Altarfelsen mit schmalen Schatten umriss, schien sich in der Szene neue Gewalt zusammenzubrauen. Sie türmten. Flohen den Hügel hinunter, bis sie die Wiese erreichten, wo sie sich erschöpft in das hohe Gras fallen ließen.
    Nach einiger Zeit bat Miss Lonelyhearts sie, zurückzugehen und das Lamm von seinem Elend zu erlösen. Sie weigerten sich. Er ging allein und fand es unter einem Busch. Er zerschmetterte ihm mit einem Stein den Schädel und überließ den Kadaver den Fliegen, die um die blutigen Altarblumen sirrten.

MISS LONELYHEARTS UND DER PLUMPE DAUMEN
    Miss Lonelyhearts stellte fest, dass er einen fast wahnhaften Ordnungssinn entwickelte. Alles hatte ein Muster zu bilden: die Schuhe unterm Bett, die Krawatten am Halter, die Bleistifte auf dem Tisch. Wenn er aus dem Fenster schaute, fügte er die Stadtsilhouette zusammen, indem er ein Gebäude gegen ein anderes wog. Wenn ein Vogel durch dieses Arrangement flog, schloss er ärgerlich die Augen, bis der verschwunden war.
    Eine Zeit lang schien er sich damit zu behaupten, doch eines Tages fand er sich mit dem Rücken zur Wand wieder. An diesem Tag zogen all die unbelebten Dinge, die er in den Griff zu bekommen versucht hatte, gegen ihn ins Feld. Sowie er irgendetwas anfasste, kippte es aus oder rollte auf den Boden. Die Kragenknöpfe verschwanden unter dem Bett, die Bleistiftspitze brach ab, der Griff des Rasierapparats löste sich, die Jalousette weigerte sich, unten zu bleiben. Er setzte sich zur Wehr, jedoch mit zu großer Gewalt, und wurde von der Feder des Weckers endgültig geschlagen.
    Er floh auf die Straße, aber dort vervielfachte sich das Chaos noch. Zerstreute Gruppen von Menschen eilten vorüber, ohne Sterne oder Vierecke zu bilden. Die Laternenpfähle waren mangelhaft angeordnet, und die Bodenplatten hatten unterschiedliche Größen. Auch wusste er nichts mit dem lauten Gebimmel der Straßenbahnen und den rohen Rufen der Straßenhändler anzufangen. Keine wiederholte Wörtergruppe passte zu ihrem Rhythmus, und kein Maßstab verlieh ihnen Sinn.
    Still blieb er an einer Mauer stehen und versuchte, nichts zu sehen oder zu hören. Dann fiel ihm Betty ein. Sie hatte ihm oft das Gefühl gegeben, dass sie, wenn sie seine Krawatte gerade zog, viel mehr gerade zog. Und einmal hatte er geglaubt, dass sie, wenn ihre Welt größer wäre, wenn diese die Welt wäre, sie so endgültig in Ordnung bringen könnte wie die Gegenstände auf ihrem Toilettentisch.
    Er gab einem Taxifahrer Bettys Adresse und bat ihn, schnell zu fahren. Doch sie wohnte am anderen Ende der Stadt, und bis sie dort angekommen waren, war seine Panik in Gereiztheit umgeschlagen.
    Sie trat in einem adretten weißen Leinenmorgenmantel, der an den Rändern ins Bräunliche vergilbte, an die Wohnungstür. Streckte ihm beide Hände entgegen, und ihre Arme kamen so rund und glatt zum Vorschein wie im Meer gewälztes Holz.
    Mit der Rückkehr seiner Befangenheit wusste er, dass nur Gewalt ihn nachgiebig machen würde. Trotzdem richtete sich seine Kritik gegen Betty. Ihre Welt war nicht die Welt und konnte nie die Leser seiner Kolumne umfassen. Ihre Sicherheit beruhte auf dem Vermögen, die Erfahrung willkürlich einzuschränken. Außerdem war seine Verwirrung von Bedeutung, ihre Ordnung aber nicht.
    Er versuchte, ihren Gruß zu erwidern, stellte aber fest, dass seine Zunge zu einem plumpen Daumen geworden war. Um nicht sprechen zu müssen, nötigte er ihr ungeschickt einen Kuss auf und hielt es dann für erforderlich, sich zu entschuldigen.
    «Zu viel Heimkehr des verlorenen Liebhabers, ich weiß, und ich … » Er geriet mit Absicht ins Stocken, damit sie

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