Miss Lonelyhearts
an.
Liebe Miss Lonelyhearts!
Ich schreibe Ihnen wegen meiner kleinen Schwester Gracie weil ihr etwas Furchtbares zugestoßen ist und ich mich nicht traue Mutter davon zu erzählen. Ich bin 15 und Gracie ist 13 und wir wohnen in Brooklyn. Gracie ist taubstumm und gröser wie ich aber nicht sehr helle weil sie ja taubstumm ist. Sie spielt auf unserm Flachdach und geht nicht zur Schule außer zweimal die Woche dienstags und donnerstags zur Taubstummenschule. Mutter schickt sie zum Spielen aufs Dach weil wir nicht wollen dass sie überfahren wird weil sie ja nicht sehr helle ist. Letzte Woche ist ein Mann aufs Dach gekommen und hat etwas Schmutziges mit ihr angestellt. Sie hat es mir erzählt und ich weiß nicht was ich machen soll weil ich mich nicht traue es Mutter zu sagen weil sie könnte sie sonst verdreschen. Ich fürchte dass Gracie ein Kind kriegt und habe gestern Abend lange ihren Mahgen abgehorcht um zu sehen ob ich das Baby hören kann konnte ich aber nicht. Wenn ich Mutter Bescheid sage verprügelt sie Gracie schrecklich denn ich bin der Einzige der Gracie gern hat und das letzte Mal als sie ihr Kleid zerrisen hat haben sie sie 2 Tage in die Kleiderkammer gesperrt und wenn die Jungs aus der Gegend davon hören dann sagen sie schmutzige Dinge wie bei Peewee Conors Schwester als die auf dem Müllplatz erwischt wurde. Also bitte was würden Sie tun wenn das Gleiche in Ihrer Familie pasiert.
Mit freundlichen Grüsen
Harold S.
Er las nicht weiter. Die Antwort lautete «Christus», aber wenn ihm nicht übel werden sollte, durfte er sich nicht auf das Christus-Business einlassen. Außerdem war Christus Shrikes privater Witz. «Miss L’s Seele, erleuchte mich. Miss L’s Leib, rette mich. Miss L’s Blut … » Er drehte sich zu seiner Schreibmaschine hin.
Obwohl seine billige Kleidung dafür zu elegant war, sah er immer noch aus wie der Sohn eines Baptistenpastors. Ein Bart würde ihm stehen, würde sein alttestamentarisches Aussehen unterstreichen. Doch selbst ohne Bart musste jeder in ihm den neuenglischen Puritaner erkennen. Seine Stirn war hoch und schmal. Seine Nase war lang und mager. Sein knochiges Kinn war wie ein Huf geformt und gespalten. Als er ihn das erste Mal sah, hatte Shrike gelächelt und gesagt: «Die Priesterinnen Amerikas sind im zwanzigsten Jahrhundert die Susan Chesters 5 , die Beatrice Fairfaxes 6 und die Misses Lonelyhearts.»
Ein Botenjunge kam herauf, um ihm zu sagen, dass Shrike wissen wollte, ob das Zeug fertig sei. Er neigte sich über die Schreibmaschine und begann auf die Tasten zu hämmern.
Doch ehe er noch ein Dutzend Worte geschrieben hatte, lehnte sich Shrike über seine Schulter. «Der gleiche alte Schmus», sagte Shrike. «Warum tischst du ihnen nicht etwas Neues und Hoffnungsvolles auf? Erzähl ihnen was von Kunst. Hier, ich diktiere:
Der Ausweg heißt Kunst.
Lass dich nicht vom Leben unterkriegen. Wenn die alten Pfade mit dem Schutt des Scheiterns verstopft sind, dann sieh dich nach neueren und frischeren Pfaden um. So ein Pfad ist die Kunst. Kunst wird aus Leid destilliert. Wie Mr Polnikoff durch seinen stattlichen russischen Bart ausrief, als er mit sechsundachtzig Jahren sein Geschäft aufgab, um Chinesisch zu lernen: ‹Wir befinden uns erst ganz am Anfang …›
Die Kunst ist eine der reichsten Gaben des Lebens.
Für jene, die nicht die Gabe haben, selber Kunst zu schaffen, bleibt doch der Kunstgenuss. Für jene …
Schreib von hier an selber weiter.»
MISS LONELYHEARTS UND DAS POKERGESICHT
Als Miss Lonelyhearts Feierabend hatte, merkte er, dass das Wetter warm geworden war und die Luft sich anfühlte wie künstlich aufgeheizt. Er beschloss, auf einen Drink in die Flüsterkneipe «Delehanty’s» 7 zu gehen. Um dorthin zu gelangen, musste er durch einen kleinen Park 8 .
Er betrat den Park am Nordtor und schluckte einige Mund voll von dem schweren Schatten, der wie ein Vorhang vor dem Torbogen hing. Er begab sich in den Schatten eines Laternenpfahls, der wie ein Speer auf dem Weg lag. Er wurde wie von einem Speer durchbohrt.
Soweit er feststellen konnte, gab es kein Anzeichen von Frühling. Der Moder, der den gesprenkelten Boden bedeckte, war nicht von jener Art, die Leben hervorbringt. Letztes Jahr, so erinnerte er sich, hatte es der Mai nicht geschafft, Leben auf diesen verschmutzten Feldern hervorzubringen. Die ganze Brutalität des Juli war nötig gewesen, um dem ausgelaugten Schmutz ein paar grüne Sprösschen abzuquälen.
Was dem kleinen Park
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