Miss Marples letzte Fälle
Atem an.
»Um Himmels willen. Das Kind dort…«
Ein kleines zerlumptes Mädchen stand neben der Pu p pe auf dem Bürgersteig. Es blickte die Straße entlang – eine Straße, die zu dieser Morgenstunde noch nicht ü bermäßig belebt war, obgleich schon ein paar Autos fu h ren. Dann bückte sich das Kind anscheinend befriedigt, hob die Puppe auf und rannte über die Straße.
»Halt, halt!«, rief Alicia.
Sie drehte sich zu Sybil herum.
»Das Kind darf die Puppe nicht mitnehmen. Das darf es nicht! Diese Puppe ist gefährlich – sie ist böse. Wir müssen es aufhalten.«
Es waren jedoch nicht sie, die das Kind aufhielten. Es war der Verkehr. In diesem Augenblick kamen drei Taxis aus der einen Richtung und zwei Lieferwagen aus der anderen. Das Mädchen war auf einer Verkehrsinsel in der Fahrbahnmitte gefangen. Sybil rannte die Treppe hinu n ter, und Alicia Coombe folgte ihr. Sich zwischen einem Lieferwagen und einem Personenauto hindurchschlä n gelnd, erreichte Sybil, dicht gefolgt von Alicia Coombe, die Verkehrsinsel, bevor das Mädchen durch die vorbe i fahrenden Autos die gegenüberhegende Fahrbahn übe r queren konnte.
»Du kannst diese Puppe nicht mitnehmen«, sagte Alicia Coombe. »Gib sie mir zurück.«
Das Kind blickte sie an. Es war ein mageres kleines Mädchen von etwa acht Jahren, das leicht schielte. Sein Gesicht war trotzig.
»Warum soll ich sie dir geben?«, fragte es. »Hast sie doch aus dem Fenster geworfen, ich hab ’ s genau gesehen. Wenn du sie aus dem Fenster wirfst, dann willst du sie nicht haben, also gehört sie jetzt mir.«
»Ich kaufe dir eine andere Puppe«, sagte Alicia b e schwörend. »Wir gehen in einen Spielwarenladen – in welchen du willst, und ich kaufe dir die schönste Puppe, die wir finden können. Aber gib mir diese hier zurück.«
»Ich will nicht«, sagte das Kind.
Seine Arme legten sich beschützend um die Samtpuppe.
»Du musst sie zurückgeben«, befahl Sybil. »Sie gehört dir nicht.«
Sie streckte die Hand aus, um dem Kind die Puppe wegzunehmen. Da stampfte die Kleine mit dem Fuß auf, drehte sich um und rief mit schriller Stimme: »Das tu ich nicht! Das tu ich nicht! Das tu ich nicht! Sie gehört mir ganz allein. Ich hab sie lieb. Ihr habt sie nicht lieb. Ihr hasst sie. Wenn ihr sie nicht hassen würdet, würdet ihr sie nicht aus dem Fenster geworfen haben. Ich hab sie lieb, sag ich euch, und das will sie. Sie will lieb gehabt werden.«
Und damit rannte das Kind, sich wie ein Aal zwischen den Fahrzeugen hindurchwindend, quer über die Straße und war in einer engen Gasse verschwunden, ehe sich die beiden Frauen entschließen konnten, ihm durch den Ve r kehr hindurch zu folgen.
»Sie ist weg«, sagte Alicia.
»Sie hat gesagt, die Puppe will lieb gehabt werden.«
»Vielleicht – vielleicht hat sie das die ganze Zeit g e wollt… lieb gehabt werden…«
Mitten im Straßenverkehr von London standen die be i den Frauen und starrten einander erschrocken an.
Spiegelbild
I ch habe keine Erklärung für die folgende Geschic h te, keine Theorie über das Wie und Warum. Es ist ei n fach etwas, das geschah.
Dennoch frage ich mich zuweilen, wie sich die Dinge entwickelt haben würden, wenn ich damals jenes eine wesentliche Detail bemerkt hätte, dessen eigentliche B e deutung mir erst so viele Jahre danach zu Bewusstsein kam. Hätte ich es bemerkt – nun, ich glaube, das Leben dreier Menschen hätte einen völlig anderen Verlauf g e nommen. Irgendwie ist das ein sehr erschreckender G e danke.
Angefangen hat alles im Sommer 1914 – unmittelbar vor Ausbruch des Krieges –, als ich mit Neil Carlslake nach »Badgeworthy« fuhr. Neil war damals, denke ich, mein bester Freund. Ich kannte auch seinen Bruder Alan, aber nicht so gut. Ihrer Schwester Sylvia war ich nie b e gegnet. Sie war zwei Jahre jünger als Alan und drei Jahre jünger als Neil. Während unserer gemeinsamen Schulzeit hatte ich zweimal einen Teil der Sommerferien bei Neil in »Badgeworthy« verbringen sollen, und beide Male war etwas dazwischengekommen. So kam es, dass ich das Zuhause von Neil und Alan erst kennen lernte, als ich schon dreiundzwanzig war.
Wir sollten dort eine ziemlich große Gesellschaft sein. Neils Schwester Sylvia hatte sich gerade mit einem Mann namens Charles Crawley verlobt. Er war, wie mir Neil sagte, ein gutes Stück älter als sie, aber ein überaus a n ständiger Kerl und obendrein recht vermögend.
Wir kamen, wenn ich mich recht erinnere, gegen sieben Uhr abends
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