Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
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Vor ihm saß eine Mutter. Schon wieder.
In diesem Bereitschaftsdienst hatte er schon zwei Mütter gehabt. Die erste war zu jung und zu schön gewesen. Sie trug ein weißes Stretchshirt, und ihre Schlüsselbeinknochen waren hinreißend. Sie erstattete Anzeige, weil ihr Sohn außerhalb des Schulgeländes verprügelt worden sei, und er lauschte ihr geduldig und versicherte, der Anzeige werde ernsthaft nachgegangen. Die zweite Mutter hatte verlangt, die Polizei möge einige Beamte abstellen, um ihre Tochter zu beschatten und herauszufinden, warum sie am Telefon flüsterte und nachts die Tür zu ihrem Zimmer abschloss.
In letzter Zeit waren bei all seinen Diensten Leute wegen ähnlich abstruser Anzeigen gekommen. Vor einer Woche hatte eine Frau gemeldet, ihre Schwiegertochter habe sie mit einem Fluch belegt. Er war überzeugt davon, dass seine Kollegen auf der Straße Leute angehalten und sie gebeten haben mussten, abwegige Anzeigen zu erstatten, um sich einen Scherz mit ihm zu erlauben. Bei den Bereitschaftsdiensten der anderen Ermittler kam es nie zu derartigen Anzeigen.
Es war zehn nach sechs, und hätte es in Avraham Avrahams Büro ein Fenster gegeben, hätte er gesehen, dass es draußen bereits dunkel wurde. Er wusste, was er sich auf dem Nachhauseweg zum Abendessen kaufen und was er sich im Fernsehen anschauen würde, während er aß. Aber vorher musste er erst diese dritte Mutter beruhigen. Er starrte auf den Bildschirm. Wartete auf den passenden Augenblick. Und fragte dann: »Wissen Sie, warum es keine Kriminalromane auf Hebräisch gibt?«
»Bitte?«
»Warum gibt es hierzulande keine Kriminalromane? Warum werden in Israel keine Bücher geschrieben wie beispielsweise die von Agatha Christie?«
»Ich kenne mich mit Büchern nicht besonders aus.«
»Dann werde ich es Ihnen sagen. Weil solche Verbrechen hier nicht vorkommen. Es gibt bei uns keine Serienmörder, keine Entführungen und so gut wie keine Sexualstraftäter, die auf der Straße über Frauen herfallen. Wenn bei uns ein Verbrechen begangen wird, dann war es in der Regel der Nachbar oder der Onkel oder der Großvater, und es braucht keine komplizierte Ermittlung, um den Täter zu finden und das Geheimnis zu lüften. Einen großen Unbekannten gibt es bei uns einfach nicht. Die Erklärung ist immer die am nächsten liegende. Damit will ich Ihnen sagen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Ihrem Sohn etwas zugestoßen ist, äußerst gering ist. Und ich sage das nicht, um Sie zu beruhigen, die Statistik sieht nun einmal so aus, und wir haben keinerlei beunruhigende Anzeichen, die darauf hindeuten, dass es in seinem Fall anders sein könnte. In einer Stunde oder vielleicht auch erst in drei wird er wieder zu Hause sein, im äußersten Fall morgen früh, das versichere ich Ihnen. Das Problem ist, würde ich Ihren Sohn jetzt als vermisst aufnehmen, müsste ich umgehend Beamte auf die Straße schicken, damit sie nach ihm suchen. So sind die Vorschriften. Und ich sage Ihnen aus Erfahrung: Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass er in einem Zustand aufgefunden würde, in dem Sie ihn nicht der Polizei präsentieren möchten. Was mache ich, wenn er mit einem Joint überrascht wird? Dafür gibt es Vorschriften, ich muss ein Strafverfahren wegen Drogenmissbrauchs gegen ihn einleiten. Daher denke ich, es hat keinen Sinn, jetzt mit Suchmaßnahmen zu beginnen, es sei denn, Ihr Bauchgefühl sagt Ihnen, dass ihm etwas passiert ist, und Sie können mir wenigstens einen Anhaltspunkt geben, warum Sie das glauben. Ist dem so, nehmen wir jetzt gleich eine Vermisstenanzeige auf und beginnen mit der Suche. Wenn nicht, sollten wir bis morgen früh abwarten.« Er musterte sie, um abzuschätzen, welchen Eindruck seine Rede auf sie gemacht hatte. Sie wirkte verloren. Schien es nicht gewohnt, Entscheidungen zu treffen. Oder auf etwas zu beharren.
»Ich weiß nicht, ob ihm etwas passiert ist«, meinte sie schließlich. »Das sieht ihm einfach nicht ähnlich, so zu verschwinden.«
Eine Viertelstunde war verstrichen, und noch immer saßen sie einander in seinem kleinen Zimmerchen gegenüber. Seit fünf hatte er keine Zigarettenpause mehr gemacht. Vor ihm auf dem Schreibtisch lag seine Schachtel Time und darauf ein kleines, schwarzes BIC -Feuerzeug. Außerdem hatte er in beiden Hosentaschen und in der Brusttasche seines Hemdes Feuerzeuge.
»Lassen Sie uns noch einmal die wesentlichen Fakten durchgehen und zusammenfassen, was Sie tun, wenn Sie nach Hause kommen und er noch nicht
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