Miss Marples letzte Fälle
warum…«
»Glauben Sie, die Puppe wird morgen Früh wieder am Schreibtisch sitzen?«, fragte Alicia forschend.
»Ja«, antwortete Sybil, »das glaube ich.«
Aber sie irrten sich. Die Puppe saß nicht am Schrei b tisch. Sie kauerte stattdessen auf der Fensterbank und schaute auf die Straße hinunter. Und wieder war ihre Ha l tung von außergewöhnlicher Natürlichkeit.
»Das Ganze ist furchtbar albern, finden Sie nicht?«, sa g te Alicia Coombe, als sie an diesem Nachmittag während einer Arbeitspause rasch eine Tasse Tee tranken. Sie w a ren stillschweigend übereingekommen, dies nicht wie gewöhnlich im Anproberaum, sondern in Alicia Coombes Zimmer gegenüber zu tun.
»Albern inwiefern?«
»Nun, ich will sagen, es gibt eigentlich nichts Greifb a res. Bloß eine Puppe, die immerfort an einem anderen Platz sitzt.«
Im Verlauf der folgenden Tage schien diese Festste l lung noch zutreffender. Es geschah nun nicht mehr nur des Nachts, dass die Puppe ihren Platz wechselte. Alle Augenblicke konnte es jetzt passieren, dass man, selbst wenn man den Anproberaum nur für ein paar Minuten verließ, bei der Rückkehr die Puppe an einer anderen Stelle vorfand. Es konnte sein, dass man sie auf dem Sofa sitzend zurückgelassen hatte und sie danach auf einem Stuhl entdeckte. Dann saß sie wiederum auf einem and e ren Stuhl. Manchmal pflegte sie auch auf der Fensterbank zu sitzen, oder wieder am Schreibtisch.
»Sie wechselt ihren Platz, wie es ihr beliebt«, sagte Alicia Coombe. »Und ich glaube, Sybil, ich glaube, es macht ihr Spaß.«
Die beiden Frauen standen und bückten hinab auf die regungslos daliegende Gestalt in ihrem weichen, schmie g samen Samtkleid und dem Gesicht aus bemalter Seide.
»Dabei besteht das Ganze aus nichts als ein paar Samt- und Seidenflicken und ein paar Tupfen Farbe«, fuhr Al i cia in gezwungenem Ton fort. »Wissen Sie, eigentlich könnten wir – hm – könnten wir sie wegtun.«
»Was meinen Sie, wegtun?« Sybils Stimme klang fast schockiert.
»Na ja«, meinte Alicia, »wir könnten sie ins Feuer we r fen, wenn wir ein Feuer hätten. Sie verbrennen, meine ich, wie eine Hexe… Aber natürlich«, fügte sie nüchtern hinzu, »könnten wir sie auch einfach in die Abfalltonne werfen.«
»Ich glaube nicht, dass das ginge«, erwiderte Sybil. »Wahrscheinlich würde sie irgendwer aus der Tonne he r ausholen und uns zurückbringen.«
»Oder wir könnten sie irgendwo hinschicken«, schlug Alicia Coombe vor. »Sie wissen schon, an einen von di e sen Vereinen, die einem ständig Bettelbriefe schreiben – zum Verkaufen oder für einen Basar. Ich denke, das wäre die beste Idee.«
»Ich weiß nicht«, sagte Sybil. »Ich hätte beinahe Angst, das zu tun.«
»Angst?«
»Nun ja, ich glaube, sie würde zurückkommen.«
»Sie meinen, sie würde hierher zurückkommen?«
»Ja.«
»Wie eine Brieftaube?«
»Ja, genau so.«
»Wir werden hier doch hoffentlich nicht alle langsam närrisch, oder?«, meinte Alicia Coombe. »Vielleicht bin auch ich inzwischen total verkalkt, und Sie wollen mir bloß nicht widersprechen. Ist es so?«
»Nein«, antwortete Sybil. »Aber ich habe ekelhafte Angst – ich habe das scheußliche Gefühl, dass die Puppe uns überlegen ist.«
»Was? Dieses Bündel Lumpen?«
»Jawohl, dieses grässliche schlappe Bündel Lumpen. Denn sehen Sie, sie ist so entschlossen.«
»Entschlossen?«
»Ihren Willen durchzusetzen. Das ist jetzt ihr Zimmer, wissen Sie.«
»Ja.« Alicia Coombe blickte sich um. »Das stimmt. E i gentlich war das von Anfang an so, wenn man sich ’ s recht überlegt – die Farben und all das… Ich dachte i m mer, sie passt so gut hier herein, aber es ist das Zimmer, das zu ihr passt. Ich muss allerdings sagen«, fuhr sie mit einem Anflug von Härte fort, »es ist schon ein starkes Stück, dass eine Puppe einfach so daherkommt und von den Dingen Besitz ergreift. Sie wissen, dass Mrs Groves nicht mehr hier drinnen sauber machen will.«
»Sagt sie, sie hätte Angst vor der Puppe?«
»Nein. Sie hat nur immer irgendeine Ausrede.« Dann fügte Alicia mit einem Unterton von Panik hinzu: »Was sollen wir tun, Sybil? Diese Geschichte macht mich ganz fertig, wissen Sie. Ich bin seit Wochen nicht mehr fähig, ein Kleid zu entwerfen.«
»Ich kann mich auch nicht richtig aufs Zuschneiden konzentrieren«, gestand Sybil. »Ich mache ständig die dümmsten Fehler. Vielleicht«, setzte sie zögernd hinzu, »wäre Ihre Idee, an die PSI-Leute zu schreiben, doch nicht so
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