Mister Perfekt
Mädchen war. Ach, natürlich war das Geschlecht auf der Geburtsurkunde vermerkt, aber wer sieht da schon nach? Ihre Mutter behauptete, Corin sei ihr Sohn, und wir... haben das so hingenommen.«
»Sie wurde als Junge erzogen?«, fragte Sam. Er saß an seinem Schreibtisch, hatte die langen Beine auf eine offene Schublade gestützt und presste das Telefon ans Ohr.
»Meines Wissens hat die Mutter nie zugegeben und sich nie so verhalten, als wisse sie, dass Corin ein Mädchen war. Corin war ein ziemlich verstörtes Kind. Schwer verstört«, bekräftigte Mr. Cosgrove. »Ständig hatten wir Probleme mit ihr. Einmal hat sie das Haustier ihrer Lehrerin umgebracht, doch Mrs. Street wollte auf gar keinen Fall hinnehmen, dass Corin so etwas tun könnte. Pausenlos erklärte sie jedem, der es hören wollte, dass sie einen perfekten kleinen Jungen habe.«
Bingo, dachte Sam. Mr. Perfekt . Dieser Auslöser hatte Corin Lee Street hochgehen lassen wie eine jahrelang tickende Bombe. Was sie so unerträglich gefunden hatte, war weniger der Inhalt der Liste, sondern vielmehr ihr Titel gewesen.
»Sie meldete Corin von meiner Schule ab«, fuhr Mr. Cosgrove fort. »Dennoch habe ich mich bemüht, den weiteren Lebenslauf des Kindes zu verfolgen. Natürlich verschlimmerten sich die Verhaltensprobleme mit jedem Jahr. Als Corin fünfzehn war, ermordete sie ihre Mutter. Ich meine mich zu entsinnen, dass es ein ausgesprochen brutaler Mord war, auch wenn ich mich an die Details nicht erinnern kann. Corin verbrachte mehrere Jahre in einer psychiatrischen Einrichtung und wurde nie für ihre Tat vor Gericht gestellt.«
»Hat sich der Mord bei Ihnen in Denver ereignet?«
»Ja.«
»Vielen Dank, Mr. Cosgrove. Sie haben mir sehr geholfen.«
Nachdem Sam aufgelegt hatte, klopfte er mit dem Stift auf seinen Schreibtisch und sann darüber nach, was er bislang über Corin Lee Street erfahren hatte. Sie war als Corin in die psychiatrische Klinik eingewiesen worden, doch bei ihrer Entlassung hieß sie Leah - offensichtlich, weil der Name so ähnlich klang wie »Lee«. Allmählich zeichnete sich deutlich das Bild einer extrem labilen und gefährlichen Frau ab, die von ihrer Mutter psychisch und physisch missbraucht worden war, bis die Gewalt, die ihr ganzes Leben lang Tröpfchen für Tröpfchen ausgesickert war, sich schließlich in einer Explosion Bahn gebrochen hatte. Mochten sich die Psychologen darüber ereifern, ob am Anfang der Missbrauch oder erst die gewalttätige Persönlichkeit stand - Sam war das egal. Er wollte einfach nur ein klares Bild jener Frau, die ein solches Grauen zu verantworten hatte.
Nachdem er mit Corins Schuldirektor gesprochen hatte, rief er in der Polizeizentrale von Denver an und bekam schließlich jenen Detective an den Apparat, der damals in dem grausamen Mord an Mrs. Street ermittelt hatte. Corin hatte ihre Mutter mit einer Stehlampe zu Tode geprügelt, dann reinen Alkohol über das Gesicht der Frau gegossen und ihn angezündet. Als der Leichnam entdeckt wurde, war Corin nicht ansprechbar und eindeutig geistig verwirrt. Während der nächsten sieben Jahre war sie in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt untergebracht worden.
Weitere Nachforschungen führten Sam zu der Psychologin, die Corin damals behandelt hatte. Die Frau seufzte tief, als er ihr von Corins Tod und dessen Umständen erzählte. »Sie wurde gegen meinen Rat entlassen«, sagte sie. »Aber wenn sie wirklich so viele Jahre stabil geblieben ist, bevor ihr Zustand sich verschlechterte, hat sie sich besser gehalten, als ich erwartet hätte. Solange sie ihre Medikamente nahm, kam sie zurecht, aber trotz alledem war sie - ich verwende nicht gern Etiketten, auch wenn sie zutreffen - psychotisch. Meiner Meinung nach war es nur eine Frage der Zeit, bis sie jemanden umbringen würde. Sie wies sämtliche klassischen Symptome auf.«
»Wie ging die Verwandlung von Corin zu Leah von sich?«
»Corin war der Name ihres Großvaters mütterlicherseits. Ihre Mutter wollte um gar keinen Preis akzeptieren, dass ihr Kind weiblichen Geschlechts war. Frauen waren... ›Unwürdig‹ und ›schmutzig‹ waren die von Corin verwendeten Begriffe. Mrs. Street gab Corin einen Jungennamen, erzog sie als Jungen, kleidete sie wie einen Jungen und erzählte überall, dass Corin ihr Sohn sei. Wenn Corin irgendeinen Fehler machte, wurde sie, schon als ganz kleines Kind, bestialisch hart bestraft: geschlagen, mit Nadeln malträtiert, in eine dunkle Kammer gesperrt. Dann kam sie in
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