Misterioso
Kinder am Wochenende nach Dalarö fahren. Zu Cilla. Er selbst wusste nicht, wo er hin sollte. Die Einsamkeit nagte an ihm.
Zu Hause zu sein und nichts zu tun war völlig ungewohnt für ihn. Und zu Hause zu sein ohne Cilla und ihre vertrauten Geräusche war doppelt ungewohnt. Zwei Monate lang hatte er in einem geschlossenen Raum gelebt, und jetzt fiel es ihm schwer, wieder aus diesem Raum herauszufinden. Er war sich nicht sicher, ob ihm das jemals hundertprozentig gelingen würde. Er vermisste Kerstin. Und er vermisste Cilla.
Er trank ein Starkbier und versuchte an die vor ihm liegende Zeit wie an einen langen Urlaub zu denken. Dann wieder kam es ihm vor, als wäre da nur ein großes schwarzes Loch. Von hundertfünfzigprozentiger Aktivität zu hundertfünfzigprozentiger Passivität innerhalb eines knappen Tages. Die Umstellung war nicht leicht zu verkraften.
Aber vielleicht musste der Urlaub nicht notgedrungen so passiv werden wie seine Urlaube sonst. Vielleicht fiel ihm ja etwas ein, womit er sich beschäftigen konnte. Außerdem fing er gerade erst an, sich verlassen zu fühlen. Auch das brauchte seinen Platz.
Er trank den letzten Schluck Bier aus der Dose und ging auf die Toilette. Da stand er im Stockfinstern und pinkelte, lange und ausgiebig. Und während der Uringestank aus der Kloschüssel aufstieg, wurden um ihn her die Konturen des Badezimmers sichtbar. Er sah sich selbst im Spiegel, ein schwach leuchtendes Band um einen dunklen Fleck. Wie ein Helm, dachte er. Ein Schutzhelm.
Er wartete, während sein Gesicht sich aus der Dunkelheit herausschälte. Er fürchtete sich vor dem Anblick, aber das, was er schließlich zu sehen bekam, waren keine Erinnyen, waren nicht Göran Anderssons Züge, sondern ein neutrales Gesicht, gerade Nase, schmale Lippen, dunkelblondes, kurzgeschnittenes Haar, T-Shirt. Ein paar graue Haarsträhnen. Und ein roter Pickel auf der Wange. Der Helm war verschwunden.
Er strich vorsichtig über den Pickel. Früher hatte er beim Anblick seines Spiegelbildes oft gedacht: keine besonderen Kennzeichen, überhaupt keine Kennzeichen. Jetzt hatte er zumindest eins. Zum ersten Mal dachte er nicht mit Hass an den Defekt im Gesicht, im Gegenteil. Ein besonderes Merkmal, dachte er.
Einen Augenblick lang erkannte er auch das Herz. Auf jeden Fall sah er sich selbst im Spiegel und nicht Göran Andersson. Und einen Moment lang gefiel ihm sogar, was er sah.
Er schloss die Augen und erblickte die große Dunkelheit.
Zwei Monate lang aufgestaute Müdigkeit kam von innen her auf ihn zugerollt. Und zum ersten Mal seit zwei Monaten ließ er sie zu. Er dachte an Göran Andersson, an die dünne Grenze zwischen ihnen und daran, wie leicht es war, diese Grenze zu überschreiten und nie mehr zurückzukönnen. Seine Gedanken bewegten sich tief in der großen, allumfassenden Dunkelheit. Er selbst war noch nicht angekommen, nicht richtig.
Da klingelte es an der Tür, ein kurzes, zurückhaltendes Signal.
Er wusste augenblicklich, wer es war.
Sie stand im Regen, als er aufmachte. Ihr Blick war der gleiche wie damals in der Küche. Und auf dem Steg. Verlassen. Unendlich einsam. Aber trotzdem viel stärker als seiner.
Wortlos ließ er sie eintreten. Auch sie sagte kein Wort. Sie zitterte. Er führte sie zum Sofa und schenkte ihr ein Glas Whisky ein. Ihre Hand zitterte, als sie es an die Lippen führte. Er betrachtete ihr ausdrucksstarkes Gesicht in dem schwachen Licht. Spürte das leichte Flackern der Flamme, die im Begriff war zu erlöschen. Ein kleines, schwaches Lebenslicht. Er richtete ihr auf dem Sofa das Bett und ging selbst nach oben ins Schlafzimmer. Alles andere musste warten. Endlich gab es wieder ein Morgen.
Er legte den Walkman auf den Nachtschrank, schob die Kassette hinein, kroch in das ungemachte Bett und dachte für den Bruchteil einer Sekunde an die Millionen Milben, die es mit ihm teilten. Jeder Mensch ist eine Welt für sich, dachte er schläfrig, steckte sich die Ohrstöpsel in die Ohren und drückte den Play-Knopf.
Als die Finger des Klavierspielers ihre Wanderung über die Tastatur begannen, rauf und runter, vor und zurück, kam sie ins Zimmer. Sie kroch zu ihm unter die Decke, und er legte seinen Arm um sie. Sie sahen einander an. Ihre Welten waren hoffnungslos verschieden. Er spürte ihren Atem auf seiner Brust und hörte, wie das Saxophon sich zu dem Klavier gesellte. Das Mysterium war gelöst, aber der Nebel war noch da.
Misterioso.
Die gemeinsame Wanderung ging zu Ende. Das Saxophon
Weitere Kostenlose Bücher