Mit 80 000 Fragen um die Welt
– Mörder.
«Wie lange wollen Sie das noch machen?»
«So lange, bis die dadrin endlich aufhören.»
Luis zieht ein Foto aus seiner Tasche. Er hat es während eines Kampfes selbst geschossen.
«Sie besuchen Stierkämpfe?»
«Ab und zu schon. Du musst deinen Feind kennen, wenn du ihn besiegen willst.»
Auf dem Foto liegt der Stier bereits am Boden. Sein Maul ist geöffnet, und die Zunge hängt heraus. Mehrere Lanzen bohren sich in seinen Rücken, das Blut rinnt über sein glänzendes Fell in den Sand. Auf den Rängen hält sich eine Frau die Augen zu. Auch der Rest des Publikums ist geschockt.
«Das hier ist das Ende. Sie stechen mit der Klinge in den Hals.»
«Und ist der Stier tot?»
«Noch nicht ganz. Sie sind dabei, ihn zu töten. Die meisten Toreros stoßen ihre Lanze erst zwischen die Schulterblätter. Dann stechen sie dem Stier ins Genick, und das Tier erstickt langsam. Aber wenn sie ihnen die Ohren und den Schwanz abschneiden, sind die meisten Tiere noch gar nicht tot. Weißt du, welche Geräusche ein Stier dann von sich gibt?»
Am nächsten Morgen verlasse ich Sevilla und reise nach Gerena, einem kleinen Ort in den Hügeln fünfzig Kilometer vor der Stadt. Von dort aus geht es weitere sieben über eine Schlaglochpiste, dann fahre ich durch ein Tor aus zwei Steinpfeilern mit einem pfannenbesetzten Bogen darüber. Dahinter liegt die Hazienda La Calera. Rosafarbene Blumen ranken an den schneeweißen Wänden der Finca, davor wachsen Dattelpalmen und Oleander. Eine schwarze Kutsche steht vor dem Eingang, wo ein stattlicher, braungebrannter Mann mich begrüßt: Borja Lora Sangran.
«Bienvenido!», ruft er und bittet mich in sein Haus. Auch das Innere ist wahr gewordenes Bilderbuch. Steinfußböden,Steinwände, ein Kamin und eine lange Tafel aus dunklem Holz. Ich begleite den Hausherrn an eine Bar, und er schenkt uns Sherry ein. Borja sagt, er führe die Farm nun schon in vierter Generation und seine Kampfstiere seien in ganz Spanien berühmt. «Vamos, ich zeige dir die Farm!»
Wir gehen ins Freie und steigen in einen offenen, mit Stahlplatten verkleideten roten Hänger. Ein Traktor zieht ihn über das Anwesen, vorbei an Magnolienbäumen und Olivenfeldern.
«Wo endet denn Ihre Farm?»
«Siehst du den Hügel dahinten?»
Borja deutet auf einen Berg. Ich bin kurzsichtig, aber immerhin erkenne ich, dass er sehr weit weg ist.
«Fünf Kilometer hinter dem Hügel endet La Calera.»
«Und sind Sie schon einmal ganz um Ihr Land herumgefahren?»
«Nein, das würde zu lange dauern.»
Nach einer Viertelstunde halten wir, und der Fahrer des Traktors öffnet ein rotes Stahltor. Wir passieren es, fahren in einen lichten Wald aus Korkeichen, und plötzlich bebt die Erde. In einer braunen Staubwolke donnert eine Herde aus fünfzig Kampfstieren direkt an unserem Hänger vorbei. Ihre Hufe zerwühlen den Lehm und reißen das Gras aus dem Boden, ihre Hörner sind gewaltig, und ihr Fell ist so schwarz wie die Nacht. Jeder Stier wiegt mindestens eine halbe Tonne.
«Die sind jetzt vier Jahre alt, bald gehen sie in die Arena!», erklärt Borja, und bis dahin sollen die Tiere möglichst wild leben und wenig Kontakt zu Menschen haben. Hat er nicht Mitleid mit ihnen?
«Manchmal schon, aber am Ende des Kampfes stirbt der Stier, das gehört nun mal zum Theater. Und überhaupt:Wenn der Bulle in der Arena nicht getötet wird, was soll ich mit ihm anfangen?»
«Ist Stierkampf ein Sport?»
«Es ist eine Kunst. Die Kunst des Tötens.»
In Spanien zählt die Corrida de Toros tatsächlich zu den schönen Künsten. Und vor zwei Jahren verlieh das Kultusministerium die «Medalla de Oro», die Goldene Medaille der schönen Künste, an José Tomás, «El Rey».
Sind Toreros nun Helden oder Mörder? Eines wird mir klar: Wenn ich die Antwort finden will, muss ich selbst Torero werden.
Schon bald finde ich mich auf dem Sandboden einer Miniaturausgabe der Real Maestranza wieder, ich stehe im Zentrum einer Trainingsarena mit sandweißen Wänden und einer Tribüne für fünfzig Zuschauer. In den Händen halte ich ein Tuch, es ist gelb auf der einen und rosa auf der anderen Seite. Mit diesen Farben beginnen die Toreros den Kampf. Das rote Tuch, die Muleta, verwenden sie erst ganz zum Schluss. Die Farbe des Blutes hat nur symbolische Bedeutung, denn Stiere sind farbenblind, sie reagieren auf Bewegungen.
Ich blicke den Produzenten an, der die Szene durch einen Verschlag mit seiner Kamera filmt. Er zuckt mit den Schultern. Plötzlich
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