Mit anderen Augen (German Edition)
will ich nicht mit ihm reden. Jedenfalls nicht jetzt und hier. Morgen ist früh genug, finde ich. „Das habe ich nicht.“
„Dann hör' bitte auf, dich so zu verhalten, okay? Oder willst du, dass ich mir vorkomme, wie das letzte Arschloch?“
Seit wann hat er immer die richtigen Worte parat? Und seit wann ist es mir wichtig, was er denkt? Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich vor unserer Flucht dachte, dass ich bis zum Hals in der Tinte stecke, weil ich ihn nicht umbringen konnte. Das tue ich immer noch. Also mit dem Hals in der Tinte stecken. Der Grund ist heute allerdings ein anderer.
„Nein“, gestehe ich leise. „Ich will nicht, dass du dich wie das letzte Arschloch fühlst.“
„Na also.“ Jannik deutet auf das Waschbecken. „Mach.“
Ich habe eben die Zahnbürste in die Hand genommen, als mir seine nächste Frage das Blut ins Gesicht treibt. Ich kann nicht verhindern, dass ich rot werde. „Herrgott, Jannik, hör' endlich auf damit!“
„Nein.“
„Warum nicht, verflucht noch mal?“
Jannik grinst, als ich ihn wütend ansehe. Er hat so einen Ausbruch wohl erwartet. „Weil es wichtig ist. Also? Hast du schon mal freiwillig einen Mann geküsst, Zack?“
„Das geht dich nichts an“, antworte ich mürrisch und greife nach der Zahnpasta.
„Ich schätze, das bedeutet 'nein'.“
Die Zahnpasta landet nur nicht an seinem Kopf, weil er rechtzeitig ausweicht und ich auch nicht wirklich gezielt habe. „Noch ein Wort zu dem Thema und ich schwöre dir, dass ich...“
„Solltest du jemals den Unterschied zwischen Sex für Geld und Sex aus Liebe wissen wollen, weißt du, wo du mich findest.“
Als ich mich endlich von meiner Fassungslosigkeit erholt habe, hat Jannik das Badezimmer längst verlassen und ich stehe da wie ein Idiot. Zumindest fühle ich mich die nächsten zehn Minuten so, während ich im Bad beschäftigt bin. Dabei hat er das mit seinen Worten überhaupt nicht beabsichtigt, das ist mir schon klar. Es ändert nur nichts.
Als Stricher küsst man seine Kunden allgemein nicht. Er hat Recht, ich habe noch nie freiwillig einen Mann geküsst. Das Bedürfnis hatte ich nie. Warum auch? Ich war die Ware, der Kunde war das Geld.
Jannik ist allerdings kein Kunde und er wird mich auch nicht dafür bezahlen, dass ich die Beine für ihn breit mache. Nicht, dass ich das je wieder tun werde, diese Zeiten sind vorbei. Sein Angebot ist allerdings verlockend, das muss ich zugeben. Vor allem, weil er körperlich keine Bedrohung für mich ist. Ich glaube, ich könnte mich darauf einlassen, mit ihm ins Bett zu gehen. Wir müssen nur noch die Frage klären, wer unten liegt. Wobei das für mich nicht zur Debatte steht.
„Wer liegt unten?“
Ich kann mich nicht wirklich erinnern, wie ich vom Badezimmer in sein Zimmer gekommen bin, aber sonderlich überrascht wirkt Jannik nicht, als er von dem Buch aufsieht, das er mit ins Bett genommen hat.
„Was?“
„Beim Sex. Wer liegt unten?“
„So was entscheidet man eigentlich spontan“, antwortet er und lacht leise, als ich den Kopf schüttle. „Zack, mir ist es egal. Ich bestehe nicht darauf oben zu sein, okay?“
Damit kann ich leben. „Dann zeig' es mir.“
„Was genau soll ich dir zeigen?“
„Den Unterschied zwischen Sex für Geld und Sex aus Liebe.“
Jannik klappt das Buch zu und legt es auf den Nachttisch, bevor er mich fragend ansieht. „Hier? Jetzt?“
„Ja. Oder gilt dein Angebot nicht mehr?“
Statt einer Antwort, schlägt Jannik die Bettdecke zurück und steht auf. „Bist du dir sicher?“
Nein, das bin ich mir ganz und gar nicht. Als Stricher ging es nur um Geld. Ich habe meinen Körper vier Jahre lang meistbietend verkauft. Gefühle waren dabei immer fehl am Platz. Das, was Jannik tun will, ist damit nicht zu vergleichen. Ob das der Grund dafür ist, dass ich es will? Mit ihm? Will ich einfach wissen, wie es sich anfühlt, wenn man dabei etwas fühlt? Wenn man sich erlauben darf, dabei zu fühlen und zu spüren?
Jannik seufzt und lenkt damit unwillkürlich meinen Blick auf seine Lippen. Schmale Oberlippe, volle Unterlippe. Er hat eine kleine Narbe über dem linken Mundwinkel. Von einem Unfall auf dem Spielplatz, als er ein Kind war. Als er anfängt zu grinsen, zwinge ich meinen Blick hoch zu seinen blauen Augen, die mich unverwandt ansehen.
„Eine Antwort wäre nicht schlecht, Zack“, sagt er, als ich fragend die Stirn runzle.
„Ja, ich bin mir sicher.“ Es ist erstaunlich, wie leicht mir das Lügen fällt, dabei
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