Mit sich selbst befreundet sein
das Unheimliche zu nehmen und sie greifbarer zu machen? Die verbreitete Norm , sie überwinden zu müssen, ist in Wahrheit nur eine Option , allerdings eine, die in Bezug auf eine Einzelangst »Sinn macht«, nicht in Bezug auf die Angst überhaupt: Wer die Angst schlechthin besiegen will, bestärkt sie nur; schon das kleinste, alltäglichste Ängstigen gerät fortan zur großen Störung. Gelänge der »Endsieg«, erwüchse daraus ein Problem, da ein entscheidendes Korrektiv fürs Leben damit verloren ginge: Das Selbst, das keine Angst zu empfinden vermag, ist auf Schritt und Tritt bedroht, da es nicht in der Lage ist, Gefahren wahrzunehmen. Die Schwäche der Ängstlichkeit begründet auch ihre Stärke.
Mit seiner Haltung zur Angst entscheidet das Selbst zugleich über seine Haltung zum Leben . Denn die Angst wirft die Frage nach dem Leben als Ganzes auf; alle Angst ist im Grunde Lebensangst: Angst um das Leben , das eigene wie das anderer, an denen dem Selbst sehr viel liegt; und Angst vor dem Leben , seinen Ungewissheitenund Herausforderungen, Verletzungen und Enttäuschungen. Angst ist die »negative«, schmerzliche, missliche, schlimme Erfahrung schlechthin, die Fragen an das Leben aufwirft: Was ist eigentlich Leben? Was ist mein Leben? Gibt es etwas darin, das Angst macht? Ist es die Einrichtung des Lebens, die Angst hervortreibt? Lässt sich daran etwas ändern? Das Leben selbst sorgt für die Fragen, und so beginnt die Suche nach Antworten; es sei denn, das Selbst versucht, um jeden Preis weiter so dahinzuleben – dann droht über den Zweifel hinaus die Verzweiflung, der Verlust jeglichen Vertrauens auf das Leben, und die Gründe dafür lassen sich nicht einfach abtun.
Die ängstliche Sorge aber, die ernst genommen wird, aktiviert das Eigeninteresse des Selbst und sorgt für eine erste Selbstaneignung, die darin besteht, sich nicht mehr nur der Bestimmung durch andere und äußere Verhältnisse zu überlassen. Aus der ängstlichen Sorge um sich selbst wird die kluge Sorge für sich selbst , mit Rücksicht, Umsicht, Vorsicht und Voraussicht. Der Übergang zur klugen Sorge ist dadurch charakterisiert, dass das Selbst Distanz zu sich und zur eigenen Situation zu gewinnen vermag; dass es somit zur Reflexion seiner selbst und der Verhältnisse, in denen es lebt, in der Lage ist. Das Selbst begibt sich auf den Weg zur Bewusstwerdung, zur bewussten Lebensführung, zur Lebenskunst, vorausgesetzt, dass es die Momente der Bewusstheit, die sich ergeben, auch festhält, und sie nicht so rasch wie möglich wieder zu zerstreuen sucht. Das Leid wird zum Gedanken, der Gedanke aber führt zur Kunst des Lebens, zuallererst zu einer Kunst des Umgangs mit Angst.
Grundelement dieser Kunst ist die Kultivierung der Angst , um ein lebbares Maß zwischen ihrem Zuviel und Zuwenig zu gewinnen. Das kleinere Problem ist das Zuwenig, aber sehr wohl gibt es dieses Zuwenig der Angst – es zeigt sich daran, dass die Anlässe zur Angst umso mehr gesucht werden, je mehr diese gemieden und »besiegt« werden soll. Sobald ein bestimmtes Quantum an Angst unterschritten wird, scheint das Leben unerträglichflach und spannungslos zu werden. So könnte es sein, dass die menschliche Existenz in jedem Fall der Angst bedarf, egal wovor. Dem lässt sich durch die Sicherstellung eines existenziellen Angstquantums begegnen, etwa dadurch, sich vorsätzlich in Situationen der Angst zu begeben – die sehr verbreitete Liebe zu Krimis und Gruselfilmen, zu Abenteuersport und Extremsituationen lässt sich auf diese Weise erklären. »Das Leben« selbst spürt den Mangel und bemüht sich gegenzusteuern. Hatte ich selbst einen zu großen Mangel an Angst?
Aber der, der Angst hat, hat sie oft im Übermaß, so sehr sogar, dass das Leben fraglich wird. Die weitaus größere Schwierigkeit der Kultivierung ist daher die Bewältigung des Zuviel . Die Kunst des Umgangs mit Angst kann hier zunächst eine pharmakologische sein, wenn auch mit größter Vorsicht und Zurückhaltung: Die Rolle von Psychopharmaka zumindest für die akute Verminderung extremer Ängste ist kaum zu negieren, und doch kann sie aufgrund der »Nebenwirkungen« keine dauerhafte Antwort sein. Zur weitaus wichtigeren Kunst wird somit die dialogische , die Kunst des Gesprächs, mit sich selbst, mit anderen, mit Freunden und »Experten«, mit denen ein solches Gespräch geführt werden kann. Das Gespräch gibt der Angst den Raum, in dem sie ernst genommen wird, ausgesprochen werden kann und sich
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