Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
Vom Netzwerk:
sein können, versagen dürfen
    Der Erfahrung der Angst liegt jedoch womöglich eine andere Erfahrung zugrunde: die der Schwäche; ohne Schwäche keine Ängstlichkeit. Selbst der »Anfang der Philosophie«, archē philosophías , geht vielleicht auf die Wahrnehmung der eigenen Schwäche und des Unvermögens zurück, wie Epiktet im 1./2.Jahrhundert n. Chr. in seinen Unterredungen meinte ( Diatriben II, 11). Neben, nach oder noch vor dem ontologischen Staunen über das, was ist und wie es ist und dass überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, markiert die Erfahrung der anthropologischen Schwäche und des Versagens angesichts dessen, was eigentlich Not tut, somit den anderen Anfang der Philosophie, des Innehaltens und Nachdenkens. Aus diesem abgründigen Grund heraus entfaltet sich die philosophische Aufmerksamkeit und Wachsamkeit mit all ihren Fragen und Argumenten, Methoden und Disziplinen; sie folgt der Schwäche und den Ängsten und kümmert sich um sie. Kommt darin ein Verlangen nach Überwindung jeglicher Schwäche zum Vorschein, das stoische Programm einer Besserung des Selbst bis hin zu seiner Perfektionierung? Aber die stoische, ebenso die christliche Auffassung vom Menschen, die beide eine Überwindung seiner Schwäche fest im Blick haben, setzen diese immerhin noch als grundlegendes anthropologisches Phänomen der asthéneia voraus. In der Moderne hingegen wird ein Krankheitsbild daraus: die Asthenie , wohl mit guten Gründen, jedoch mit der fatalen Folge, jede Schwäche bereits für Krankheit zu halten und mit unterschiedlichen medizinischen Mitteln darauf zu reagieren. In der Moderne klafft ein Abgrund zwischen dem obligatorischen Streben nach Perfektion, das ihrer Dynamik innewohnt, und der notorischen menschlichen Erfahrung, in keiner Weise perfekt, vielmehr schwach zu sein und versagen zu können. Alle Perfektionierung von Wissenschaft und Technik, von der die Moderne umgetrieben wird, lässt all das am menschlichen Leben, was dahinter zurückbleibt, als heillos defizient erscheinen.
    Als Entbehren von »Saft und Kraft« wird die Schwäche alltäglich erfahren. Schwäche lässt sich jedoch genauer beschreiben als ein Verlust von Mächtigkeit , Mächtigkeit verstanden als ein Verfügen über Möglichkeiten, als Können in diesem Sinne, und dies erklärt auch die spezifische Schwäche des Versagens: etwas nicht zu können, jedenfalls nicht jetzt und vielleicht auch künftig nicht, es möglicherweise noch nie gekonnt zu haben. Schwächeist die Erfahrung von Ohnmacht , und es ist erstaunlich, wie profund diese das Innere des Selbst zu durchdringen vermag, denn sie äußert sich nicht nur im Physischen und Psychischen, sie greift selbst aufs Geistige über, auf das hermeneutische Sinngefüge des Selbst, und entfaltet hier auf ruinöse Weise ihre Wirkung: Was immer als sinnvoll galt, erscheint nun als nichtig. Alles wird fragwürdig, auch das Selbst für sich selbst. Kann selbst der »Sinn«, insofern er einer Anstrengung bedarf, Zusammenhänge zu sehen und zu knüpfen, eine Frage von Kraft sein? Liegt der Grund dafür, dass die Kultur der Moderne so allergisch gegen Schwäche ist, darin, dass sie sich ohnehin nur mit Mühe der Sinnlosigkeit erwehrt? Ist sie entgegen dem äußeren Eindruck im Innersten ihrer selbst schwach und ohnmächtig?
    Einzelne Menschen tragen diese Problematik in sich und glauben an ein persönliches Problem, das ihnen zu schaffen macht. Das spitzt sich in der Lebenshaltung junger Menschen zu, die bemüht sind, sich nur ja keine Blöße zu geben, keine Schwächen erkennen zu lassen, die geforderte Leistung penibel zu erbringen, alle Aufgaben perfekt zu lösen, »ganz normal zu sein«, Karriere zu machen, Erfolg zu haben, winner zu sein und niemals loser , vor allem aber: immer cool , auf ganz unphilosophische Weise stoisch, scheinbar unbeeindruckt von allem, unberührt, auch unberührbar in jeder Hinsicht. Zugleich leiden sie unter der Erfahrung von Schwäche, da sie sich eines Könnens nicht für mächtig halten. Der Kraftaufwand, die Fassade der Kraft andauernd aufrechtzuerhalten, ist immens, zweifellos ein Wettbewerbsnachteil auf dem Weg zum angestrebten Ziel, stark zu werden, jedenfalls auf längere Sicht. Andersmodern wäre es, trotz allem die Schwäche zu leben, sie gewähren zu lassen wenigstens für einen Moment, sie sich und anderen einzugestehen, im vertrauten Kreis oder im Kreis von Betroffenen, auch in einem therapeutischen Kontext, um das Unvermögen oder gar Versagen

Weitere Kostenlose Bücher