Mit sich selbst befreundet sein
keine letztgültige Klärung erdenschwerer Fragen, keine absolute Klarheit über Leben und Welt erlangen zu können – Tausende von Anläufen dazu in Tausenden von Jahren haben dies jedenfalls nicht erbracht. Gerade diese Schwäche lässt den Raum der Philosophie so attraktiv erscheinen: Sie offeriert den Raum zur Erörterung all der Fragen, die andernorts keinen Platz finden; sie vermittelt die Erfahrung, dass es Fragen gibt, die kaum jemals definitiv zu beantworten sind; sie regt die Einsicht an, dass die Lebenskunst wohl zu einem guten Teil darin besteht, sich mit diesem Stand der Dinge zu bescheiden. Das Gespräch aber zu verweigern, treibt Menschen erst in die Arme derer, die fragwürdige Formen von »Lebenshilfe« anbieten und Verklärung an die Stelle von Klärung setzen.
Auch wenn es dabei nicht um einen definitiven Rat geht, so doch um einen Prozess der Beratung , was zu tun sei: eine Erörterung der Aspekte, die im Spiel sind, der Optionen, die zur Verfügung stehen, der Argumente, die für und wider die in Frage kommenden Optionen sprechen. Entscheidend ist das optative Vorgehen, das die Verantwortung bei demjenigen belässt, der sein Leben selbst lebt, und ihn dennoch mit seinen Fragen nicht allein lässt. Die Autonomie des Einzelnen zu achten ist ein hohes Gut, aus gutem Grund: Schließlich muss er auch selbst, nicht irgendein »Ratgeber«, der vielleicht nur eine zufällige und belanglose Meinung vertritt, die Verantwortung für sich und seinLeben tragen – eine existenzielle Wahrheit. Selbst eine »Empfehlung« wäre noch zu normativ, daher bleibt es im Prozess der Beratung beim Verfahren der Anregung , die hilfreicher sein kann als ein konkreter Rat, und zudem wechselseitig ist: Sie kann beiden Gesprächspartnern den Anstoß dazu geben, herkömmliche Bahnen des Denkens zu verlassen, eine Situation mit anderen Augen zu sehen und neue Möglichkeiten in den Blick zu bekommen. Der historisch und systematisch umfassende Horizont der Philosophie bietet einiges an »Stoff« für all die Anregungen, die in der Sicht derer, die sich davon inspirieren lassen, als »geistige Nahrung« verstanden werden, die sie nicht entbehren möchten. Und eine Rolle kommt im Prozess der Beratung dem eigenen Beispiel zu, wenn auch explizit nur exemplarisch, denn es kann nicht darum gehen, vorbildhaften Charakter für sich selbst zu beanspruchen, eher darum, einen Anlass zur Auseinandersetzung zu bieten, in deren Verlauf ein Gegenüber sein Eigenes zu finden vermag. Das eigene Beispiel stärkt zudem die Glaubwürdigkeit als Gesprächspartner, der nicht nur theoretisch beschlagen ist, sondern selbst auch einen praktischen Lebensvollzug vorzuweisen hat.
Resultat der Klärung und Beratung kann sein, eine Philosophie zu haben . Im individuellen wie im gesellschaftlichen Leben, in der Wirtschaft, in der Politik ist zuweilen unbedacht davon die Rede, dass man »eine Philosophie habe«. Gemeint sind damit meist Einsichten und, darauf aufruhend, Grundsätze, die für wesentlich erachtet werden und denen in der alltäglichen Praxis zu folgen versucht wird. In der philosophischen Lebenskunst wird eine durchdachte Angelegenheit, eine »Lebensphilosophie« daraus, eine bewusste, überlegte eigene Auffassung vom Leben , von seinen Eigentümlichkeiten, seinen Möglichkeiten; eine Auffassung davon, worauf es im Leben ankommt, was wichtig ist und was als »schön« erscheint. Der reflektierte Prozess der Klärung erlaubt, Grundüberzeugungen zu gewinnen, die nicht einfach nur behauptet werden, sondern aus der philosophischen Grundfragehervorgehen, was denn »eigentlich« wesentlich ist. Die Philosophie liegt in der Grundhaltung , die fürs Leben gewählt wird; und sollte sie auch zunächst durch Erziehung und Kultur vorgegeben sein, so ist sie doch zu überdenken, um zu entscheiden, ob sie beibehalten oder verändert werden soll. Eine Philosophie zu haben heißt nicht etwa, »die Wahrheit«, sehr wohl aber eine Lebenswahrheit für sich gefunden und formuliert zu haben, die gut genug begründet erscheint, um das ganze Leben darauf zu bauen: Lässt sich ohne eine solche Lebenswahrheit überhaupt leben?
Hilfreich auf dem Weg zur eigenen Lebensphilosophie ist eine freie, institutionell nicht gebundene Philosophie, die sich wie zu sokratischen Zeiten in ständiger Tuchfühlung zum individuellen und gesellschaftlichen Leben bewegt. Sie vermittelt Anstöße und Anregungen, wie sie die Geschichte der Philosophie reichlich bereithält,
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