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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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Begegnungen mit anderen Menschen und anderen Kulturen, wenngleich um den Preis eines möglichen Verlustes an Orientierung im Dickicht der Anforderungen des alltäglichen Lebens. Leben bedarf sinnlich erfahrbarer Räume der Enge, in denen es sich finden kann, und einiger Räume der Weite, in denen es sich verlieren kann. Enger Horizonte kann das Selbst sich für den Alltagsgebrauch bedienen, jenseits derer wiederum weite Horizonte sich eröffnen lassen. So trägt es Sorge für die Lebbarkeit, jedoch auch dafür, nicht in der Enge eines Horizonts sich einzuschließen, der kein Darüberhinaus mehr zulassen würde.
    Dass jeder Horizont nicht nur eine Begrenzung, sondern zugleich eine Öffnung zum Anderen hin darstellt, ist von Bedeutung, wenn es für das Selbst darauf ankommt, nicht vor der Zeit sich selbst zu begrenzen. Die äußerste Horizontlinie seines Lebens ist jedoch in jedem Fall die Grenze des Todes, die im Laufe des Lebens immer sichtbarer wird. Wenn der zeitliche Horizont nach vorne immer enger wird und sogar unmittelbar davorsteht zu verschwinden, richtet sich der Blick immer häufiger zurück: Konnte das heranwachsende Selbst einst die Landschaft desLebens nur in unklaren Umrissen im Nebel vor sich sehen, in dem jeder Weg sich im Dunst verlor – eine beängstigend ungewisse und doch faszinierend offene Situation –, so sieht das älter werdende Selbst die Landschaft des Lebens klar umrissen hinter sich, und es erkennt die Wege, die teils mit, teils ohne sein Zutun gebahnt wurden und die es mit Abertausenden von Schritten zurückgelegt hat. Erstaunlich erscheint ihm, wie sich die Wege, die zunächst nur erahnbar waren, mit all den vielfach verzweigten Um- und Abwegen, die sich im Laufe der Zeit erst ergaben, schließlich entschieden zu einer Richtung formierten. Nun erst, vom Rande des Lebens her, ist zu erkennen, wohin sie geführt haben. Und doch gilt auch für diesen Horizont, dass er nach innen hin zwar zur Begrenzung, nach außen hin jedoch zur Öffnung wird. Erneut wird die Unwägbarkeit erfahrbar, wie der Weg am Horizont weiter verläuft. Der Blick richtet sich daher erneut nicht nur zurück, sondern auch nach vorne – und über das Leben hinaus: Dies wird zur prägenden Erfahrung im Laufe des Älterwerdens.
Alte Meister? Vom Glück und Ärgernis des Älterwerdens
    Das Ganze des Lebens hat Ähnlichkeiten mit dem Ablauf eines Tages: Mühsam ist das Aufstehen am Morgen. Dann aber wird das Selbst von der Euphorie über den noch jungen Tag überwältigt: Unendlich viel Zeit steht zur Verfügung, alle Möglichkeiten stehen offen. Gleichsam beiläufig sind ein paar alltägliche Geschäfte zu erledigen, ein opulentes Essen zwischendurch zieht ein wenig Trägheit nach sich und treibt eine Müdigkeit hervor, gegen die kaum anzukommen ist. Kaum ist das Selbst wieder auf den Beinen, verläuft es sich in der großen Leere eines endlosen Nachmittags und erreicht den Nullpunkt des Tages – bis es von der plötzlichen Erkenntnis aufgeschreckt wird, dass noch viel zu tun wäre, während doch der Tag sich schon neigt. Vielleicht lässt sich ja am Abend noch einiges erledigen. Am Abend sind freilicheinige familiäre und freundschaftliche Gespräche zu führen, dann obsiegt endgültig die Müdigkeit, die Kräfte schwinden dramatisch und das Selbst ergibt sich dem Schlaf, dankbar, ihn überhaupt zu finden. Ganz ähnlich die Phasen des Lebens, mögen sie individuell auch höchst unterschiedlich ausfallen, anders eingeteilt und vor allem stark binnendifferenziert werden können. Charakteristisch ist, dass das Älterwerden, wie das Heranwachsen, nicht kontinuierlich, sondern in Schüben geschieht, die so rasch, wie sie kommen, nicht sogleich zu bewältigen sind, sodass die Lebenskunst darin besteht, sich die Zeit zu lassen, die dafür erforderlich erscheint. Das erste Drittel des Lebens entspricht dem Morgen: In den ersten drei Jahrzehnten ihres Lebens können Menschen im Vollgefühl des offenen Horizontes leben, charakterisiert vom virtuellen Können der bloßen Möglichkeit: Sie leben in Möglichkeiten und können sich nahezu unsterblich fühlen im unendlichen Raum, der den Möglichkeiten eigen ist; sie erschließen sich Lebenschancen mithilfe von Bildung und Ausbildung, die ersten Erfahrungen mit Versuchen zur Verwirklichung von Möglichkeiten werden gesammelt.
    Dann aber, etwa mit dem Überschreiten des 30. Lebensjahres, ist zusehends zu bemerken, dass der Horizont keineswegs auf Dauer so offen bleibt, wie es

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