Mit sich selbst befreundet sein
gesellschaftlichen Verhältnisse projiziert werden kann. Der existenzielle Imperativ der Lebenskunst, das Leben so zu gestalten, dass es bejahenswert ist, wird auf diese Weise zum kritischen Impuls, immer aufs Neue das, was ist, zu beurteilen, nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich, und an künftigen Verhältnissen zu arbeiten, die bejahenswerter sein könnten als die gegenwärtigen; denn »schön« ist nicht zwangsläufig das Bestehende.
9. Schließlich aber liegt der Sinn einer Schule der Lebenskunst in der Befähigung zum Glück . Dass das Glück etwas ist, das man lernen kann – »allen steht die Möglichkeit dazu offen« – ist eine Überzeugung, die bereits Aristoteles in der Nikomachischen Ethik vertrat. Grundlegend dafür ist die Sorge , mit der ein Selbst der Gleichgültigkeit ein Ende macht und sich um den Weg zum Glück, um ein Können bis hin zur Vortrefflichkeit und Exzellenz bemüht. Die Sorge ist zu konkretisieren durch das theoretische Lernen , die Aneignung von Wissen, das Durchschauen von Zusammenhängen, die Auseinanderlegung von Begriffen wie etwa »Glück«, um nicht unbedachten Auffassungen davon ausgeliefert zu bleiben. Das praktische Einüben geschieht durch Wahl und Gewöhnung: Wahl der Lebensform, Einübung des Tätigseins auf exzellente Weise, »Leben in der Verflochtenheit« mit anderen, Achtsamkeit auf materielle, körperliche, seelische Güter, Leben auch »mit dem Widrigsten auf die schönste Weise«. Einüben lässt sich eine Haltung, die sich für das Zufallsglück offen hält und das »Lustprinzip« nutzt, aber auch dessen Möglichkeiten und Grenzen im Blick behält: Lüste einerseits vorsätzlich suchen und genießen zu können, eine Ausbildung der Genussfähigkeit des Selbst; andererseits einer Reduktion des Glücks auf bloße Lust aber gegenzusteuern, um nicht zu erwarten, dass alles stets nur Lust zu machen habe. Mit der Einübung seiner Haltung bereitet das Selbst sich darauf vor, dass das Leben nicht immer »leicht« sein kann, sondern Schwierigkeiten umfasst, die zu bewältigensind, Widerstände, Komplikationen, Entbehrungen, Konflikte, die ausgefochten oder ausgehalten werden können und eine umfassende Erfahrung von Fülle erst ermöglichen. So rückt ein Glück in den Blick, das darin besteht, das Leben zwischen gegensätzlichen Erfahrungen auszubalancieren und der Polarität des Lebens zwischen Lust und Schmerz, Geburt und Tod Rechnung zu tragen.
10. Schon bei Aristoteles ist Glück etwas Göttliches: Es ist »göttlicher« als irgendetwas sonst; nicht von ungefähr trägt das Wort eudaimonía den »Daimon« in sich, der im Menschen weit über den Menschen hinausweist. Sinnvoll erscheint, in der Schule der Lebenskunst einige Auffassungen dieses »Darüberhinaus« kennen zu lernen und einen Begriff der Transzendenz zu entwickeln, zumindest einen Eindruck von der Möglichkeit zu gewinnen, sich als integralen Bestandteil übergreifender Zusammenhänge zu verstehen. Vielleicht begegnet dem Selbst das Phänomen der Religiosität und Spiritualität erstmals hier, oder es findet hier eine Form für sein Bedürfnis danach. Eine Ausgangsbasis dafür könnten Überlegungen von Novalis zu den drei Ebenen von Religiosität sein: Auf einer ersten Ebene ist sie an keinerlei Organisationsform gebunden, sondern wird als individuelle Angelegenheit und persönlicher Bezug zu einer Dimension der Transzendenz gelebt, als »Freude an aller Religion«. Auf einer zweiten Ebene befasst sich das Selbst mit dem »Mittlertum« von Religion, den Religionsgemeinschaften, in denen eine erste, wenngleich noch lose Organisation der Religiosität in Gemeinschaften des Glaubens geschieht. Auf einer dritten Ebene erst tritt, jedenfalls in der abendländischen Kultur, das Christentum als Organisation von Gläubigen, für die der »Glaube an Christus« zentral ist, in Erscheinung. Dem jeweiligen Selbst obliegt die Wahl, ob überhaupt und, wenn ja, auf welcher Ebene es einer eigenen Religiosität nachgehen will ( Die Christenheit oder Europa , 1799): Das ist der am weitesten reichende Horizont, den die Schule derLebenskunst eröffnen kann, um ein erfülltes Leben zu ermöglichen.
Horizonte malen, dem Leben Raum geben
Horizonte eröffnen Räume des Lebens. Die Grunderfahrung des Übergangs von einem Innen- in einen Außenraum, die ein Kind mit seiner Geburt macht, bleibt ihm eingeschrieben fürs gesamte Leben: sich immer wieder aufzumachen in ein Außen, zu neuen Horizonten, räumlichen wie
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