Mit sich selbst befreundet sein
des Umgangs mit anderen , denen in der Schule der Lebenskunst die gebührende Aufmerksamkeit gewidmet wird. »Umgangsformen« sind etwa die Rücksichtnahme auf andere und die eigene Zurückhaltung, Zuhörenkönnen und Ausredenlassen, Aufmerksamkeit auf andere und Anerkennung ihrer Eigenheit, Toleranz und Unvoreingenommenheit, Erweisen von Gefälligkeiten und Dankbarkeit für deren Erhalt, Zuverlässigkeitbei Verabredungen, Nachsicht für Schwächen anderer, Einstehen für andere, Hilfsbereitschaft, Zivilcourage. Als Frage der Gestaltung in der Begegnung mit anderen erscheinen Formen der Höflichkeit ebenso wie solche der Streitbarkeit. Es sind diese Formen, die dazu geeignet sind, Bürgersinn zu erlernen; »bürgerlich« sind sie im besten Sinne. Dass ihre Thematisierung zunächst vielleicht auf Vorbehalte stößt, ist nicht von Bedeutung; bedeutsam für das Selbst ist lediglich, »schon mal was davon gehört« zu haben, verstärken lässt sich der Eindruck noch durch die praktische Einübung in Rollenspielen. Im Vollzug des Lebens wird dann letztlich doch Gebrauch davon gemacht, schon weil andere Formen im fraglichen Moment nicht zur Hand sind.
7. »Es hat alles keinen Sinn«, sagte der jugendliche Täter und erhielt von seiner Mutter nach ihrem eigenen Bekunden nur zur Antwort, »was redest du für einen Quatsch«, bevor er am 26. April 2002 in Erfurt 16 Menschen und sich selbst in seinem Gymnasium erschoss. Wenn die empfundene Sinnlosigkeit ein möglicher Grund für eine solch sinnlose Tat sein kann, kommt es darauf an, die Sinngebung zu erlernen, die einst Sache der Tradition, Konvention, Religion war. Die Kunst der Hermeneutik wird mit der Deutung und Interpretation von Texten eingeübt, wie herkömmlich, in der Schule der Lebenskunst jedoch als Grundelement der Selbstsorge verstanden, um das Wohnen im hermeneutischen Raum zu ermöglichen, das grundlegender ist als jedes Wohnen sonst. Mithilfe von Interpretationen sind Zusammenhänge herzustellen, die einem Text, auch einer Beziehung, schließlich dem Leben überhaupt Sinn geben, sinnlichen, gefühlten und gedachten Sinn. Dabei geht es um Sinn nicht nur dort, wo ausdrücklich nach ihm gefragt wird, sondern überall dort, wo nach Zusammenhängen gesucht wird: inneren des Selbst, äußeren der Beziehungen zu anderen, teleologischen des Zwecks, zu dem etwas dient, und vieles mehr. Alles Lernen und Erkennen vermittelt Sinn, wenn Einzelheiten sich zu einemGanzen fügen und Verknüpfungen sichtbar werden. Sollte die Frage nach Sinn, neuronal gesehen, aus einem Mangel an neuronaler Vernetzung resultieren, so ist die gesteigerte Synapsenbildung durch Hermeneutik eine sinnvolle Antwort darauf, einhergehend vielleicht mit einer Ausschüttung von Dopamin, für das Selbst erfahrbar als Freude. Die Fülle des Sinns ist zu erahnen im Reichtum der Möglichkeiten, Zusammenhänge ausfindig zu machen. Die Schule der Lebenskunst zielt daher darauf ab, dem Selbst alle hermeneutische Kompetenz in die Hände zu spielen, die Sinnzusammenhänge zu sehen und zu bilden erlaubt, in deren Netz es sich leben lässt – auch wenn nicht alles im Leben stets »sinnvoll« sein kann.
8. Eine mögliche Sinngebung für das Selbst besteht darin, »Schönes« im Sinne von Bejahenswertem kennen zu lernen. Die Schule der Lebenskunst kann dazu anregen, einen individuellen Begriff des Schönen zu gewinnen, indem die verschiedenen Möglichkeiten des Schönen theoretisch wie praktisch zum Lerngegenstand gemacht werden: Kunstschönes, Naturschönes, menschlich Schönes, Charakterschönes, Beziehungsschönes, Verhältnisschönes, Erlebnisschönes, sinnlich Schönes, Dingschönes, Phantasieschönes, Abstraktschönes, Negativschönes. Das Schöne wird dabei nicht normativ festgelegt, sondern optativ offen gehalten; von Bedeutung ist, Alternativen zur Vorprägung des Schönen durch kulturell und medial vermittelte Muster, Alternativen auch zum Denken in bloßen Kategorien der Nützlichkeit zu gewinnen. Dass nicht unentwegt alles »schön« sein kann, führt zum Gespür für ein richtiges Maß auch des Schönen. Dass ein unreflektierter Alltagsbegriff des Schönen Probleme aufwerfen kann, macht den Sinn eines Reflexionsbegriffes deutlich und präpariert den Übergang von der Ästhetik zur Ethik, vom Bejahenswerten zur Wertsetzung, um Haltung und Verhalten daran zu orientieren. In den Blick kommt, dass die Frage des Schönen nicht nur auf das eigene Leben, sondern auch auf das Zusammenlebenmit anderen und die
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