Mit verdeckten Karten
Masseur, während er sich ihr Patientenblatt ansah. »Sie sind beim operativen Dienst?«
»Hmm.«
»Wieso ist dann von sitzender Tätigkeit die Rede? Ihr Ermittlungsbeamten verdient euer Geld doch mit den Beinen, oder?«
»Ich verdiene mein Geld mit meinem Sitzfleisch«, erwiderte Nastja, »ich sitze den ganzen Tag auf dem Hintern, zeichne Pläne und denke mir allen möglichen Unsinn aus.«
»Moment mal, arbeiten Sie etwa bei Gordejew?«
»Genau bei dem.«
»Dann sind Sie also die berühmte Kamenskaja?«
»Wieso die berühmte?«
»Man sagt von Ihnen, Sie hätten das Gehirn eines Computers. Sie machen Auswertungsarbeit, stimmt’s?«
»Stimmt. Weiß darüber etwa bereits die ganze Poliklinik der Hauptverwaltung für Innere Angelegenheiten Bescheid? Ich hätte nie gedacht, daß mich die Kunde von meinem Weltruhm in einer Massagepraxis und in halbnacktem Zustand erreichen würde.«
Der Masseur lachte.
»Nicht böse sein. Wir unterhalten uns hier immer mit unseren ständigen Patienten. Die meisten kommen aus der Kriminalabteilung. Die einen mit einem verletzten Fuß, die anderen mit einer verletzten Hand, manche, genau wie Sie, mit einem kranken Rücken. Darum habe ich schon viel von Ihnen gehört. Wollen Sie auch weiterhin zu mir kommen, oder begnügen Sie sich mit dieser einen Behandlung?«
»Wir werden sehen«, erwiderte Nastja ausweichend. »Sie wissen selbst, daß man bei einer Arbeit wie der unseren nichts im voraus planen kann.«
»Wie Sie meinen.«
Nastja hatte den Eindruck, daß ihre Unschlüssigkeit den Masseur kränkte. Aber an regelmäßige Besuche in der Poliklinik war bei ihr nicht zu denken. Heute hatte sie eine Ausnahme gemacht, und das auch nur deshalb, weil die Rückenschmerzen unerträglich geworden waren und sie ohnehin in der Nähe der Poliklinik zu tun gehabt hatte. Dabei hatte auch eine Rolle gespielt, daß der Masseur, den Jura Korotkow ihr so warm empfohlen hatte, heute Frühdienst hatte und bereits seit acht Uhr in der Klinik war, so daß sie bis zehn Uhr im Büro sein konnte. Die morgendliche Einsatzbesprechung konnte und wollte sie auf keinen Fall verpassen.
Sie trat aus dem Gebäude der Poliklinik und schlug den Weg zu dem Verlag ein, für den sie die Übersetzung eines französischen Krimis übernehmen wollte. Sie würde die Arbeit in ihrem Urlaub in Angriff nehmen, der im Mai begann. Auf den 13. Mai war der Termin ihrer Hochzeit mit Alexej Tschistjakow angesetzt. Danach hatten sie beide Urlaub und wollten zu ihrem eigenen Vergnügen arbeiten. Ljoscha würde sein nächstes schlaues Buch über Mathematik schreiben und sie, Nastja, einen Roman aus dem Französischen übersetzen. Auf diese Weise würde sie sich etwas Geld dazuverdienen und damit die Löcher in ihrem Budget wenigstens notdürftig stopfen.
An diesem Montag morgen, dem 27. März, hatte sie Glück. Beim Masseur hatte sie nicht warten müssen, sondern war gleich drangekommen, der Verlagslektor, mit dem sie zusammenarbeitete, war schon vor neun Uhr in seinem Büro gewesen, und so erreichte Anastasija Kamenskaja rechtzeitig ihre Dienststelle, die Petrowka 38. Damit allerdings endete ihr Glück. Ein paar Minuten vor Beginn der Dienstbesprechung bei Oberst Gordejew, dem Dezernatsleiter, kam der aufgebrachte Nikolaj Selujanow in ihr Büro gestürmt.
»Nastja, Tschernyschew hat dich gesucht. Er hat schon wieder eine Leiche.«
»Wo?«
»Diesmal in Taldomsk. Ein ganz junges Bürschlein, so zwischen achtzehn und zwanzig. Eine Schußwunde im Kopf. Das ist schon der vierte, wenn ich mich nicht irre.«
Selujanow irrte sich nicht. Innerhalb eines Monats hatte man im Moskauer Umland drei Leichen gefunden, jetzt offenbar die vierte. In allen Fällen handelte es sich um junge Männer im Alter von neunzehn bis fünfundzwanzig, alle waren mit der gleichen Schußwunde im Kopf aufgefunden worden. Das Gutachten ergab, daß die Kugeln, die man den Leichen entnommen hatte, alle aus derselben Waffe stammten. Die Waffe befand sich nicht in der Sachfahndung, offenbar war sie, bevor die Morde begangen wurden, noch nicht zu kriminellen Zwecken benutzt worden. Im Grunde gingen diese Verbrechen die Moskauer Kripo nichts an, für die Ermittlungen waren die Beamten der regionalen Kriminalbehörde zuständig. Einer von ihnen war Andrej Tschernyschew, Nastja kannte ihn gut und hatte schon des öfteren mit ihm zusammengearbeitet. Er hatte sie vor kurzem gebeten, sich mal ein paar Gedanken über die Sache zu machen, vielleicht hätte sie ja eine
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