Mit verdeckten Karten
ERSTES KAPITEL
1
Irina Koroljowa, die eine dicke Mappe mit Papieren an ihre Brust drückte, öffnete ruckartig die Tür zu ihrem Büro in der Protokollabteilung und erstarrte auf der Schwelle. Ihr Schreibtisch, hinter dem sie seit fast fünf Jahren saß und auf dem seit jeher alles seinen festen Platz hatte, die fünfzehn verschiedenen Aktenmappen, die Hefter, die Locher, der Kleber, die Markierstifte und andere Arbeitsutensilien, der Schreibtisch, auf dem sie jedes noch so unbedeutende Papierstück auch mit geschlossenen Augen hätte finden können und auf dem ihre Hand automatisch die richtige Mappe aus dem Stapel hervorzog, weil hier immer unerschütterliche, heilige Ordnung herrschte, dieser Schreibtisch war vollkommen leer. Irina erblickte darauf nur zwei abgetragene Männerschuhe, die auf einer sorgsam untergelegten Zeitung standen.
Sie hob vorsichtig ihren Blick und erkannte zwei Männerbeine, die aus den Schuhen herauswuchsen, einen kurzen, massigen Rumpf, zwei erhobene Arme und schließlich, am oberen Ende des absonderlichen Aufbaus auf ihrem Schreibtisch, zwei Hände, die an dem schönen sechsarmigen Lüster an der Decke herumwischten. Jurij Jefimowitsch Tarassow, der stellvertretende Abteilungsleiter im Staatlichen Zentrum für Internationale Beziehungen, ging seiner Lieblingsbeschäftigung nach. Er sorgte für Sauberkeit.
»Jurij Jefimowitsch!« rief Irina entsetzt aus, »was machen Sie hier?«
»Sie kümmern sich überhaupt nicht um Ihre Gesundheit, rotschka«, antwortete Jurij Jefimowitsch, ohne seine hingebungsvolle Beschäftigung zu unterbrechen. »Sehen Sie sich doch nur an, wieviel Staub sich auf dem Lüster angesammelt hat. Hier, mein Lappen ist ganz schwarz. Sie werden noch blind werden. So dürfen Sie nicht mit Ihren Augen umgehen, jetzt werden Sie wieder helles Licht haben, und das ganze Zimmer sieht freundlicher aus.«
»Wo sind meine Papiere?« stammelte Irina, unfähig, sich von der Stelle zu rühren.
»Gleich, Irotschka, gleich.«
Ungeachtet seines nicht gerade geringen Körpergewichts sprang Tarassow behende vom Schreibtisch und zog Irina mit sich zum großen Wandschrank.
»Hier habe ich ein spezielles Fach eingerichtet und Ihre ganzen Sachen hineingelegt.«
Das Fach war mit sauberem weißem Papier ausgelegt, darauf lagen ordentlich gestapelt die fünfzehn Aktenmappen und daneben die Arbeitsutensilien. Das Unglück bestand nur darin, daß der Schrank ziemlich weit entfernt von Irinas Schreibtisch war.
»Jurij Jefimowitsch, Lieber«, begehrte sie auf, »ich kann doch nicht jedesmal durchs ganze Zimmer gehen, wenn ich irgendwelche Unterlagen brauche. Ich würde überhaupt nicht mehr zum Arbeiten kommen, sondern den ganzen Tag nur noch hin und her laufen.«
Tarassow bedachte seine Untergebene mit einem befremdeten Blick.
»Unsinn, Irotschka. Ihr Schreibtisch muß würdevoll aussehen.«
Würdevoll! Tarassow arbeitete seit ganzen vier Tagen in der Protokollabteilung, und in dieser Zeit hatte er es bereits geschafft, die Angestellten mit seinem »würdevoll« bis an den Rand einer schweren Nervenkrise zu treiben. Gleich am ersten Tag hatte er Irina und ihre Kollegin Swetlana aus der Fassung gebracht, indem er plötzlich begann, sich ausdauernd dem für protokollarische Sitzungen vorgesehenen Blumenschmuck zu widmen. Er schnitt sorgsam die Stiele ab, besprühte die Stengel mit Wasser, warf Aspirin und Zuckerstücke in die mit frischem Wasser gefüllten Vasen.
»Ich werde euch darüber aufklären, wie man mit Blumen umgehen muß, damit die Sträuße würdevoll aussehen . . .«, murmelte er, während er den baß erstaunten Frauen treuherzige Blicke zuwarf.
Der zweite Schlag, der die Mitarbeiter der Protokollabteilung traf, war der Großputz, den der neue stellvertretende Abteilungsleiter anzettelte. Er lief mit dem Staubtuch hin und her und wischte alles ab, was ihm unter die Finger kam, bis hin zu den Telefonapparaten und den Blättern der Grünpflanzen, dabei erging er sich in lauten Selbstgesprächen: Die schweren, meterlangen Vorhänge mußten nach seiner Ansicht abgenommen und zur Wäscherei gebracht werden, und am nächsten Tag wollte er ein spezielles Pulver zur Reinigung der Kacheln mitbringen.
»Ich werde euch darüber aufklären, Mädchen, wie man das Bad sauberhalten muß, damit es würdevoll aussieht. . .«
Die Protokollabteilung belegte eine große, luxuriöse Hotelsuite, die außer dem Bad auch noch eine Küche besaß. Irina dachte mit Entsetzen daran, daß Tarassow
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