Mit Worten kann ich fliegen (German Edition)
Bett und gab mir einen Kuss. Sein Atem roch immer nach Pfefferminze.
So oft er konnte, las Dad mir vor. Selbst wenn ich wusste, dass er müde sein musste, lächelte er, suchte ein oder zwei Bücher aus und ich durfte dorthin reisen,
Wo die wilden Kerle wohnen
oder wo
Der Kater mit Hut
alles durcheinanderbringt.
Wahrscheinlich kannte ich die Worte noch vor ihm auswendig. Kinderbuchklassiker wie
Goodnight, Moon
und
Make Way for Ducklings.
Und Dutzende mehr. Die Worte jedes einzelnen Buches, das mein Vater mir je vorgelesen hat, trage ich für immer in mir.
Die Sache ist nämlich die: Ich bin unglaublich schlau, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich ein fotografisches Gedächtnis habe. Es ist, als hätte ich einen Fotoapparat in meinem Kopf, und wenn ich etwas sehe oder höre, drücke ich auf den Auslöser und es bleibt für immer.
Einmal habe ich im Fernsehen einen Bericht über Kinder-Genies gesehen. Diese Kinder konnten sich komplizierte Zahlenfolgen merken und Wörter und Bilder in richtiger Reihenfolge wiedergeben und lange Gedichtpassagen aufsagen. Das kann ich auch.
Ich erinnere mich an die kostenlose Rufnummer jeder Werbesendung und auch an die Postanschrift und die Webseite. Sollte ich jemals einen neuen Satz Messer brauchen oder den perfekten Heimtrainer, habe ich diese Informationen parat.
Ich kenne die Namen der Schauspieler und Schauspielerinnen jeder Serie, ich weiß, um welche Uhrzeit die Sendung läuft, auf welchem Programm und welche Folgen Wiederholungen sind. Ich erinnere mich sogar an die Dialoge aus jeder Serie und an die Werbesendungen dazwischen.
Manchmal wünschte ich, ich hätte eine Löschtaste in meinem Kopf.
An meinem Rollstuhl ist eine Fernbedienung für den Fernseher angebracht, ganz nah an meiner rechten Hand. Auf der linken Seite habe ich eine Fernbedienung für das Radio. Ich habe genug Kontrolle über meine Faust und meinen Daumen, um die Knöpfe zu drücken, damit ich die Sender wechseln kann, und dafür bin ich
echt
dankbar! Vierundzwanzig Stunden Profi-Wrestling oder Teleshopping können einen in den Wahnsinn treiben! Ich kann die Lautstärke regeln und sogar DVDs abspielen, wenn jemand eine für mich in das Gerät gelegt hat. Oft schaue ich mir die alten Videos an, die Dad von mir gemacht hat.
Aber ich mag auch die Programme, in denen es um Könige geht und die Reiche, die sie erobert haben, oder um Ärzte und die Krankheiten, die sie geheilt haben. Ich habe Sendungen über Vulkane gesehen, über Hai-Angriffe, über Hunde, die mit zwei Köpfen geboren wurden, und über die Mumien in Ägypten. Ich erinnere mich an sie alle. Wort für Wort.
Nicht dass mir das viel bringen würde. Niemand weiß davon, außer mir. Nicht einmal meine Mutter, obwohl sie diesen »Mutterinstinkt« besitzt, der ihr sagt, dass ich Dinge verstehe. Aber selbst der hat seine Grenzen.
Niemand kapiert es. Niemand. Es ist zum Ausflippen.
Deswegen verliere ich ab und zu
total
die Kontrolle. Und wenn ich total sage, dann meine ich auch total. Meine Arme und Beine verkrampfen sich und peitschen um sich wie Baumäste in einem Sturm. Selbst mein Gesicht verzerrt sich. Wenn das passiert, kann ich manchmal nicht so gut Luft holen, aber ich muss, denn ich muss kreischen und schreien und zucken. Es sind keine epileptischen Anfälle. Die haben eine medizinische Ursache und lassen einen einschlafen.
Diese Vorfälle – ich nenne sie meine »Tornado-Explosionen« – sind ein Teil von mir. Alles, was nicht funktioniert, staut sich an und bläht sich auf. Ich kann nicht aufhören, auch wenn ich will, auch wenn ich weiß, dass ich anderen Angst einjage. Ich verliere mich. Es kann ziemlich hässlich werden.
Einmal, als ich etwa vier war, waren Mom und ich in einem dieser Riesensupermärkte, die alles verkaufen, von Milch bis zum Sofa. Ich war noch klein genug, um in den Kindersitz vorne am Einkaufswagen zu passen. Mom war immer vorbereitet und stopfte links und rechts von mir Kissen an die Seiten, damit ich nicht umkippte. Alles war gut. Sie warf Toilettenpapier und Mundspülung und Waschpulver in den Wagen, und ich schaute mich um, genoss die Fahrt.
Dann, in der Spielzeugabteilung, sah ich sie. Päckchen mit grellbunten Plastikbauklötzen. Gerade an diesem Morgen hatte ich eine Warnung vor diesem Spielzeug im Fernsehen gesehen – es wurde zurückgerufen, weil die Klötze mit bleihaltiger Farbe bemalt waren. Mehrere Kinder waren bereits mit Bleivergiftung ins Krankenhaus eingeliefert worden, hatte der
Weitere Kostenlose Bücher