Mit Worten kann ich fliegen (German Edition)
Kapitel 2
Ich kann nicht sprechen. Ich kann nicht laufen. Ich kann nicht alleine essen oder aufs Klo gehen. Pech gehabt.
Meine Arme und Hände sind ziemlich steif, aber ich kann die Knöpfe auf der Fernbedienung für den Fernseher drücken und meinen Rollstuhl mithilfe von Griffen an den Rädern fortbewegen. Ich kann keinen Löffel und keinen Stift festhalten, ohne ihn fallen zu lassen. Und mein Gleichgewichtssinn ist gleich null – der Zappelphilipp hatte mehr Kontrolle über sich als ich.
Wenn die Leute mich anschauen, sehen sie wahrscheinlich ein Mädchen mit kurzem, dunklem, lockigem Haar, das in einem pinken Rollstuhl festgeschnallt ist. Übrigens hat ein pinker Rollstuhl nichts Niedliches an sich. Pink ändert gar nichts.
Sie sehen ein Mädchen mit dunkelbraunen Augen, die voller Neugier sind. Allerdings schielt eines davon etwas.
Ihr Kopf wackelt ein bisschen.
Manchmal sabbert sie.
Sie ist ziemlich klein für ein Mädchen von zehn und drei viertel Jahren.
Ihre Beine sind sehr dünn, wahrscheinlich weil sie nie benutzt wurden.
Ihr Körper hat die Tendenz, sich nach seiner eigenen Agenda zu bewegen. Die Füße kicken manchmal unerwartet um sich und die Arme rudern gelegentlich und stoßen dabei mit allem zusammen, was sich in ihrer Nähe befindet – ein Stapel CDs, eine Suppenschüssel, eine Vase mit Rosen.
Kontrolle ist nicht wirklich viel vorhanden.
Wenn die Leute fertig sind, eine Liste mit meinen Problemen zu erstellen, nehmen sie sich vielleicht die Zeit, um zu bemerken, dass ich ein ziemlich nettes Lächeln habe und tiefe Grübchen – ich finde meine Grübchen cool.
Ich trage winzige goldene Ohrringe.
Manchmal fragen die Leute nicht einmal nach meinem Namen, als wäre es nicht wichtig oder so. Es ist wichtig. Ich heiße Melody.
Ich kann mich weit zurückerinnern, an die Zeit als ich noch richtig, richtig klein war. Natürlich ist es schwierig, echte Erinnerungen von den Videoaufnahmen zu trennen, die Dad mit seinem Camcorder von mir gemacht hat. Ich habe mir diese Teile eine Million Mal angeschaut.
Mom, wie sie mich aus dem Krankenhaus heimbringt – mit einem Lächeln im Gesicht, aber von Sorgen umschatteten Augen.
Melody, wie sie in einer winzigen Babybadewanne steckt. Meine Arme und Beine sehen so dünn aus. Ich plansche nicht und strampele nicht.
Melody, mit Decken abgestützt auf dem Wohnzimmersofa – auf meinem Gesicht liegt ein zufriedener Ausdruck. Als Baby habe ich nie viel geweint; Mom schwört, dass es wahr ist.
Mom, wie sie mich nach einem Bad mit Lotion eincremt – ich kann den Lavendel immer noch riechen – und mich dann in ein weiches Handtuch wickelt, in dessen einer Ecke eine Kapuze eingenäht ist.
Dad hat Videos von mir gemacht, wie ich gefüttert und gewickelt werde und sogar wie ich schlafe. Als ich älter wurde, hat er wahrscheinlich darauf gewartet, dass ich mich umdrehe, mich hinsetze und laufe. Das habe ich nie getan.
Aber ich habe alles in mich aufgesogen. Ich begann, Geräusche und Gerüche und Geschmäcker wiederzuerkennen. Das Bollern und Zischen der Heizung, wenn sie morgens ansprang. Der herbe Geruch nach erhitztem Staub, wenn es langsam warm im Haus wurde. Das Gefühl von Niesen hinten in meiner Kehle.
Und Musik. Lieder schwebten durch mich hindurch und blieben hängen. Wiegenlieder, vermischt mit den weichen Gerüchen der Bettzeit, schlummerten mit mir. Harmonien brachten mich zum Lächeln. Es ist, als hätte schon immer ein farbenfroher Soundtrack die Hintergrundmusik zu meinem Leben gespielt. Wenn Musik läuft, kann ich Farben fast hören und Bilder riechen.
Mom liebt Klassik. Schwere, dröhnende Beethoven-Symphonien schallen den ganzen Tag aus ihrem CD-Player. Während ich zuhöre, erscheinen mir diese Stücke strahlend blau und riechen nach frischer Farbe.
Dad hat eine Vorliebe für Jazz, und immer wenn er die Gelegenheit dazu hat, zwinkert er mir zu, nimmt Moms Mozart-CD heraus und legt eine CD von Miles Davis oder Woody Herman ein. Jazz klingt für mich braun und sonnengebräunt und riecht nach nasser Erde. Jazzmusik treibt Mom in den Wahnsinn, was wahrscheinlich der Grund dafür ist, dass Dad sie auflegt.
»Von Jazz bekomme ich Juckreiz«, sagt sie mit finsterem Blick, wenn Dads Musik in die Küche hineinplatzt.
Dad geht dann zu ihr, kratzt ihr sanft über die Arme und den Rücken und umschlingt sie in einer Umarmung. Ihr finsterer Blick verschwindet. Aber kaum, dass Dad den Raum verlassen hat, wechselt sie zurück zur
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