Miteinander reden 2: Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung; Differentielle Psychologie der Kommunikation (German Edition)
wieder etwas aus. Bald macht er an einem Supermarkt Fensterscheiben kaputt, bald klaut er irgendwo etwas, bald ist er in eine Schlägerei verwickelt. Wenn dem Vater das gemeldet wird, ist er jeweils entsetzt und voller Strenge: «Aus dir wird ein Verbrecher – wenn das so weitergeht, kommst du in ein Heim!» Der Sohn, von niemandem wirklich anerkannt, fühlt sich als Abschaum, abgestempelt als krimineller Problemfall. Entsprechend handelt er. – So weit sind die Fakten schnell ermittelt, der Teufelskreis sieht folgendermaßen aus:
Mit dieser Diagnose könnte man sich zufriedengeben, wären nicht im Gespräch mit allen Beteiligten auch noch andere Zwischentöne vernehmbar: Schimmert nicht durch die übertrieben geißelnde Aufgebrachtheit des Vaters eine gewisse Faszination hindurch? Mehr noch: Während er sonst durch den Zerfall der Familie als Vater ziemlich «abgemeldet» ist, bieten die Missetaten des Sohnes immer wieder Anlass, nach dem Vater (und nicht nach der Mutter oder Großmutter) zu rufen – und ist das nicht jeweils seine «große Stunde»? Begründet sein Gefühl, hier anerkannt und gebraucht zu werden, ein heimliches Interesse an den Missetaten? Und der Sohn, der seinen Vater verloren hat? Immer, wenn er etwas ausgefressen hat, steht der Vater «auf der Matte»; und setzt er sich nicht – bei aller vernichtenden Verurteilung – dann für ihn ein? Kein gerade inniges, aber eben doch ein Vatererlebnis , das auf diese Weise zurückgewonnen wird. So ermöglicht diese Kollusion zwischen Vater und Sohn die Aufrechterhaltung einer emotionalen Beziehung, vermittelt beiden ein Gefühl von Zusammengehörigkeit, das auf «regulärem» Wege aufrechtzuerhalten ihnen verwehrt ist. – Das Geschehen ist «überdeterminiert», von ganz verschiedenen Dynamiken gleichzeitig am Leben gehalten – und wir haben in den äußeren Teufelskreis noch einen verdeckten inneren zu zeichnen:
Diese Beispiele mögen zunächst genügen, um mit dem Schema vertraut zu sein und das Denken in systemischen Wechselwirkungen zu trainieren. Die typischen Standard-Teufelskreise, die sich mit bestimmten Persönlichkeitsanteilen und Kommunikationsstilen verbinden, werden wir dann im Abschnitt III betrachten. Dort wird noch eine weitere Unterscheidung einzuführen sein in symmetrische und komplementäre Kreisläufe (s. S.152).
3.
Das Werte- und Entwicklungsquadrat
Wir kommen nun zum dritten (und letzten) gedanklichen Werkzeug, das mir als Kommunikationspsychologe in der Praxis hilft, klarer zu sehen und die Zielrichtung von Interventionen sicherer zu bestimmen. Seine allgemeine Struktur hat schon Aristoteles in ähnlicher Form vor Augen gehabt, und sie enthält eine Anleitung zum dialektischen Denken. In der hier dargestellten Form des Wertequadrates stammt es von Helwig (1967), und ich möchte es, um es für Vorgänge der zwischenmenschlichen Kommunikation und Persönlichkeitsbildung nutzbar zu machen, auch als Entwicklungsquadrat verstehen. – Mir selbst hat die Begegnung mit diesem Denk- und Werteschema schlagartig geholfen, frühere Holzwege, die wir als Kommunikationstrainer naseweis gegangen waren, klarer als solche zu durchschauen – ich komme darauf zurück. Zuerst eine kleine systematische Einführung.
3.1
Die allgemeine Struktur
Die Prämisse lautet: Um den dialektisch strukturierten Daseinsforderungen zu entsprechen, kann jeder Wert (jede Tugend, jedes Leitprinzip, jedes Persönlichkeitsmerkmal) nur dann zu einer konstruktiven Wirkung gelangen, wenn er sich in ausgehaltener Spannung zu einem positiven Gegenwert, einer «Schwestertugend», befindet. Statt von ausgehaltener Spannung lässt sich auch von Balance sprechen. Ohne diese ausgehaltene Spannung (Balance) verkommt ein Wert zu seiner «Entartungsform» (Helwig) – oder sagen wir lieber: zu seiner entwertenden Übertreibung .
Nehmen wir ein einfaches Beispiel aus dem Bereich der bürgerlichen Tugenden (s. Bollnow, 1958): Sparsamkeit verkommt ohne ihren positiven Gegenwert Großzügigkeit zum Geiz , umgekehrt verkommt auch Großzügigkeit ohne Sparsamkeit zur Verschwendung . Die hierbei regelmäßig entstehenden vier Begriffe lassen sich nach Helwig zu einem «Wertequadrat» anordnen, wobei jeweils die beiden positiven Gegenwerte oben und die entsprechenden Unwerte unten zu stehen kommen:
Abb. 5:
Allgemeine Struktur eines Wertequadrates am Beispiel «Sparsamkeit»
«Alle diese werthaften Begriffe ordnen sich zu einer ‹Vierheit› von Werten bzw. Unwerten. In
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