Mitte der Welt
zu hören von dort.
Ich öffne das Fenster: Die Luft ist klar, es riecht nach Grün, die Zinkblechdächer auf den Kuppeln glänzen, Tauben gurren, und von der großen alten Platane tropft es hörbar; sie wirkt erfrischt. Die Sonne scheint wieder, und auf den Straßen gehen wieder Menschen; sie gehen um die Pfützen herum oder springen darüber, und draußen auf dem Wasser sind wieder die glitzernden Glanzflächen.
Strahlend schön liegt sie wieder da, die Stadt der Städte, unverwüstlich, ewigjung – frisch gewaschen.
NEBEL
Eins der letzten Schiffe wohl, die heute Nacht noch rüberfahren – hoffentlich ist es eines mit Radar! Ob überhaupt noch Schiffe hinüberfahren heute Nacht, bei dem Nebel, war allerdings die Frage.
Manchmal bei Nebel wird der Betrieb eingestellt, und die Abertausend, die täglich hin- und herpendeln zwischen asiatischem und europäischem Ufer, müssen den weiten Weg über die Brücke nehmen.
Zu sehen ist absolut nichts, nicht eines der vielen tausend Lichter der Stadt. Nur Nebel, dicht wie eine Wand, oder wie Watte so stumpf. Oder eben Nebel wie Nebel sein kann manchmal im Herbst.
Das Rauschen des Wassers ums fahrende Schiff herum – aber durch die Fensterscheiben, du kannst wischen, so viel du willst, ist kein Hauch von einer Bugwelle zu sehen.
Und plötzlich die Vorstellung: Durch den Nebel brechend, dicht vor deiner Nase eine der haushohen Schiffswände –
Auch ohne Nebel sind, wenn du im kleinen Boot sitzt, diese Tanker- oder Container-Giganten ungeheuer.
Und die Stille im Boot heute Nacht!
Auch sonst, ohne Nebel, ist es nachts ruhig im Boot, und auch bei Tag ist es nicht so, dass auf der kurzen Überfahrt viel geredet wird; nur eben dass sonst alle, von irgendwoher irgendwohin unterwegs, ihren eigenen Gedanken nachhängen.
Heute Nacht aber, als ob hinter dem Nebel die Millionenstadt mit ihren vielfachen Bezügen versunken, als ob uns kein Ufer je mehr beschieden sei, steht diese Stille zwischen uns. Eine Stille, die uns, je länger das Rauschen des Wassers ums Boot herum und das Gebrumm des Motors andauern, zusammenschließt. Draußen ist nichts. Nur wir hier drin, im Boot, im fahlen Neonlicht. Die Anspannung in den Gesichtern, lauschend nach draußen, tastend mit dem Gehör nach Halt, da die sichtbare Welt sich so völlig entzieht.
Wo eigentlich fahren wir hin, bis zum Schwarzen Meer noch oder etwa bis zur Krim?, sagt einer in die angespannte Stille hinein.
Verhalten wird gelacht hier und dort.
Und als, aus der Nebelwand herausbrechend, die Anlegestelle von Beşiktaş schemenhaft auftaucht, ist allseits erleichtertes Aufatmen zu hören. Der Ruck dann beim Anstoßen an die Quaimauer; und schon springen die ersten der auf der nächtlichen Überfahrt Vereinten an Land – und auseinander.
KOHLE
Das scheuernd schleppende Geräusch einer über Asphalt geschleiften Plastikplane – die Straßenfegerkinder! Zu mehreren ziehen sie, Müll sammelnd, durch die Straßen; und hinter sich her die große, schwere Plane, je zwei Ecken zusammengebunden mit Seilen, die über ihre Kinderstirnen gespannt sind; das schürfende Geschleife und das Rumpeln und Scheppern von Dosen und allem sonst, was die Straße hergibt.
Plötzlich ist es still – haben die Kinder zwischen all dem Müll etwas gefunden, eine Uhr vielleicht oder Geld oder ein Armband oder ein Feuerzeug, und stehen nun und begutachten es?
Spaltbreit goldenes Licht trifft mich, und Stimmen und Reden –
Ich bin ja in Istanbul!
Endlich gelingt mir doch, mich aus dem letzten Rest Schlaf herauszureißen. Ich springe aus dem Bett und ans Fenster: Das also war’s!
Auf der Straße haben sie Kohle abgeladen – noch steht der Laster mit gekippter Ladefläche, und um den Kohlehaufen herum, der die Straße ganz versperrt, sind Männer mit Schaufeln und Hacken und eine Frau mit einem Besen –; gleich werden sie anfangen, die graubraunschwarzen Brocken zu zerkleinern und in den Keller zu schütten.
Aber im Traum die Kinder?
Noch sehe ich sie vor mir, während ich zuschaue, wie unten die Kohle zerkleinert wird. Und plötzlich ist mir, als ob ich keinen weiteren Winter hier in der Stadt bleiben könne.
WINTERLINGE (FÜR SAIT FAIK)
Nein danke, ich möchte keinen Tee!, sage ich dem Mann mit dem Tablett voller Gläser mit Tee.
Eine wunderbare Sitte, dachte ich anfangs, wo immer du hinfährst, immer kannst du Tee trinken, selbst auf dem Schiff. Und trank, wo immer ich hinfuhr, Tee. Bis die Bitterkeit des Tees auf den Schiffen mir
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