Mitte der Welt
EIN WUNSCH
Diese Säule! Und auf Augenhöhe das Loch darin, wenig mehr als daumendick, ummantelt von messingenem Blech – wer seinen Daumen ins Loch steckt und die Hand dreht, streicht mit den Fingern darüber hin; da viele es tun, ist das Messingblech gelb glänzend, frisch poliert.
Sehr viele scheinen davon zu wissen und steuern, wenn sie durchs hohe Portal in den Hauptraum treten, sehr bald die Säule links hinten an.
Einen Hinweis, was es mit dieser Säule mit dem Loch auf sich hat und warum der Daumen hineinzustecken ist und die Hand herumzudrehen, gibt keiner meiner Istanbul-Führer. Stattdessen, versteht sich, woher der grüne Marmor für die einen Säulen stammt und woher der Porphyr für die anderen, welches die Einflüsse waren bei den mit flächig filigranartigen Akanthusblättern überzogenen Kapitellen usw.
Als ich, das erste Mal in der Aya Sofya, zu dieser Säule geraten war und, verwundert über die Menschentraube davor, stehen blieb, fragte ich mich, was sie von den anderen Säulen unterscheide. Worauf ein junger Mann mich ansprach, er sei Student der Kunstgeschichte und versuche sich etwas Geld zu verdienen, indem er Interessierten sein Wissen über diesen Ort weitergebe.
Oh, dann erzählen Sie mir von dieser Säule! Über sie steht nichts in meinem Buch.
Die Aya Sofya, das Wunderwerk ohnegleichen, war der Legende nach nur mit Gottes Hilfe zu bauen möglich, und auf sein Geheiß hat ein Engel sie, als Fatih Sultan Mehmet sie zur Moschee erklärte, in Richtung Mekka gedreht; das Loch in der Säule ist der Abdruck des kleinen Fingers des Engels, der diese Drehung vollbrachte. Darum, wer seinen Finger in den Engelsfingerabdruck legt und einmal ringsum dreht, dessen Wunsch wird wahr.
Im Gesicht des jungen Mannes, als er es erzählte, die Mischung aus Glauben und Nichtglauben – ich fragte, ob er der Macht des Wünschens misstraue. Sein Lächeln dann –
Ja, Sie haben recht, sagte ich, aufs Wünschen sich einzulassen kann sehr gefährlich sein – und dachte an jenen Mann, der mich, lang ist es her, verführt hatte mit seinem Du darfst dir doch auch etwas wünschen! Fatal, dass ich über den Nachsatz Solange wünschen noch hilft! hinweggegangen war.
Immer stehen Menschen dort bei der Säule und warten, bis sie dran sind mit dem Wünschen. Frauen oder Männer, jüngere, ältere, manchmal ganze Gruppen, auch gemischte.
Viele kommen, erkennbar an Kleidung und Sprache, anderswoher, aus größeren und kleineren Provinzstädten des Landes, um das einzigartige Istanbul einmal im Leben zu erleben. Auch Schulklassen kommen, Ausflug für einen Tag, von Tekirdağ herüber, von Bandırma, Bursa, Kocaeli und folgen, ein flatternder Haufen, ihren Lehrern und Lehrerinnen, die dozierend auf sie einreden und hierhin und dorthin zeigen, allerdings nie zur Säule; trotzdem scheinen viele der Kinder von der Säule zu wissen und laufen zu ihr hin.
Und all die jungen Leute, die sonst lachend und schnatternd durch die Stadt ziehen, verstummen, wenn sie der Säule näher treten; höchstens kichern sie noch und flüstern und tuscheln, aber wenn sie dran sind, ihren Daumen ins Loch zu stecken und mit der offenen Hand übers Messing zu gleiten, stehen sie stumm und hochkonzentriert, um nur ja ohne abzusetzen einmal rundherum zu gelangen und den Kreis ganz zu schließen – und gleichzeitig in sich hineinzutasten, zu jenem Ort hin, wo die Wünsche angesiedelt sind.
Touristen aus westlichen Ländern kommen nur, wenn Ortskundige sie hinführen und ermuntern zum Wünschen – was manche mutig wagen; andere winken ab, verunsichert, dass ihnen Wünsche zugetraut werden, oder ängstlich, falls sie sich erfüllten.
Von außen gesehen, als Baukörper, ist die Aya Sofya ein ziemlich unförmiger Steinhaufen, bar jeder Eleganz wegen der völlig überdimensionierten Stützpfeiler, später hinzugefügt, um den Druck der Kuppel auf die Mauern abzufangen; darüber waren wir uns einig, der junge Mann und ich.
Aber der Innenraum! Die phänomenale Lichtführung, die einzigartigen Lichtverhältnisse – es scheint der Raum von innen zu leuchten und die Kuppel zu schweben. Ja, ein Wunderwerk! Erbaut zu einer Zeit, als das Wissen um die Gesetze von Materie und Raum ein völlig anderes war und die heutige Statik unbekannt.
Nicht das Bauwerk mit all seinen kostbaren Details macht diesen Ort zu dem, was er ist, sondern der Raum selbst: ein corpus politicum mysticum .
Nicht verwunderlich, dass spätere Generationen das Wunder zu ergründen
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