Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)
VORWORT
» Heiliger Raymond Nonnatus, niemals hat man gehört, dass jemand, der dich um deine Hilfe gebeten oder um dein Eingreifen ersucht hat, allein geblieben wäre. Zu dir komme ich, vor dir stehe ich. Verschmähe du nicht mein Bitten, sondern höre mich in deiner Barmherzigkeit und steh mir bei. «
Der Heilige Raymond Nonnatus ist einer meiner Schutzpatrone. Ich möchte wetten, die meisten Leute ahnen nicht, dass er der Schutzheilige der unschuldig Angeklagten ist. Ich möchte gern glauben, dass ich einen besonderen Platz in seinem Herzen habe, denn viel größer als bei mir kann das Unrecht der Anschuldigungen kaum sein. Deshalb haben ich und der alte Raymond eine Abmachung getroffen. Wenn er mir aus dieser Lage heraushilft, werde ich zu allen großen Kathedralen der Welt reisen und allen seinen Statuen, die ich finden kann, Blumen und Schokolade zu Füßen legen. Sie haben nicht gewusst, dass Heilige Schokolade mögen? Tja, dann haben Sie jetzt schon etwas gelernt, und wir haben gerade erst angefangen!
Ich habe insgesamt drei Schutzheilige. Sie mögen sich fragen, wer die beiden anderen sind und wie ein vulgärer Sünder wie ich nicht mit einem, sondern gleich mit drei Heiligen gesegnet sein kann, die über ihn wachen. Mein zweiter Schutzpatron ist der heilige Dismas. Er ist der Beschützer der zum Tode Verurteilten und Gefangenen. Bisher hat er seine Arbeit getan und auf mich aufgepasst. Da habe ich keine Klagen. Welche Vereinbarung der heilige Dismas und ich haben? Nur die, dass ich jede Woche zur Messe in die Gefängniskapelle gehe, es sei denn, ich hätte einen verdammt guten Grund, es nicht zu tun.
Mein dritter Schutzpatron ist einer, mit dem ich aus gutem Grund viele Male in meinem Leben sprechen musste: der heilige Judas, der Heilige für verzweifelte und hoffnungslose Fälle. Ich würde sagen, für etwas, das ich nicht getan habe, in der Todeszelle zu sitzen ist ein ziemlich verzweifelter und hoffnungsloser Fall. Was der heilige Judas bekommt? Es macht ihm einfach Spaß, dabei zuzusehen, in welche lächerliche Notlage ich als Nächstes gerate.
Sobald ich anfange zu glauben, dass das, was ich schreibe, aus objektiver Sicht keinen Wert hat, werde ich den Stift aus der Hand legen. Mich plagt oft der Gedanke, dass die Menschen mich entweder als jemanden sehen, der in der Todeszelle sitzt, oder als einen, der dort mal gesessen hat. Ich bin unzufrieden, wenn ich mir vorstelle, dass ein morbides Gefühl der Neugier jemanden dazu bringt, das zu lesen, was ich niederschreibe. Die Leute sollen lesen, was ich aufschreibe, weil es ihnen etwas bedeutet – weil es sie zum Lachen bringt oder weil es sie an Dinge erinnert, die sie vergessen haben und die ihnen einmal wichtig waren, oder weil es sie einfach auf irgendeine Weise berührt. Ich will keine Absonderlichkeit sein, kein Freak, keine Kuriosität. Kein Autounfall, bei dem man bremst und gafft.
Wenn jemand anfängt zu lesen, weil er das Leben aus einer anderen Perspektive als seiner eigenen sehen will, bin ich zufrieden. Wenn jemand liest, weil er wissen will, wie das Leben von da aussieht, wo ich stehe, bin ich glücklich. Die Vampire sind es, bei denen mir flau und unbehaglich wird – die, denen nichts an mir liegt, sondern die sich nur für so etwas wie Menschen in der Todeszelle interessieren. Diese Leute erscheinen mir wie kreisende Aasgeier, und sie haben etwas Ungesundes. Sie suhlen sich in Depressionen, und ihr Leben folgt einem Abwärtstrend. Im Geiste sind sie fast so tot wie die Maden, die an einem Sommertag in einem überfahrenen Igel wimmeln. Mit dieser Art von Energie will ich nichts zu tun haben. Ich möchte etwas von bleibender Schönheit erschaffen, kein groteskes Ausstellungsstück in einem Monstrositätenkabinett.
Diese Geschichten aufzuschreiben ist auch eine Läuterung für mich. Ein reinigender Akt. Wie kann man den Dingen ausgesetzt sein, denen ich ausgesetzt war, ohne von ihnen verfolgt zu werden? Man kann einen Mann nicht nach Vietnam schicken und sich dann wundern, wenn er Flashbacks hat, oder? Dies ist die einzige Möglichkeit für mich, meine Psyche von dem Trauma zu befreien. Therapiesitzungen für hundert Dollar die Stunde stehen mir nicht zur Verfügung. Ich brauche aber auch keinen Freud mit seiner Ödipus-Theorie. Geben Sie mir einfach Stift und Papier.
Ich bin hier Zeuge von Dingen geworden, die mich zum Lachen gebracht haben, und über andere habe ich geweint. Die Umgebung, in der ich lebe, ist so verzerrt, dass
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