Mitte der Welt
war nur mit Schal vor Mund und Nase möglich, daran entlangzugehen.
Emel erzählte mir einmal, dass sie in ihrer Kindheit beim Schwimmen im Bosporus sich von der starken Strömung hätten treiben lassen; und im Marmara Meer seien sie nach Kieseln getaucht, sagte sie. Das Wasser war so klar, dass du bis auf den Grund sehen konntest! Aber eines Tages, wenn die Türkei in der EU ist, werden die nötigen Gelder für die Sanierung fließen, so wie sie nach dem Beitritt Griechenlands für die Bucht vor Piräus geflossen sind.
Neulich, als ich Emel daran erinnerte, lachte sie: Heute sieht natürlich alles ganz anders aus, und wir können von Glück sagen, dass wir das Schlamassel unserer griechischen Nachbarn nicht mitbezahlen müssen; das Wasserproblem aber, du wirst schon sehen, das lösen wir selbst!
Wohl möglich, so viel wie inzwischen geschafft ist! Und auch für die Bosporus-Passage, bin ich mir ganz sicher, wird bald Pflicht sein, einen Lotsen an Bord zu nehmen.
Allerdings, dass diese Veränderungen es sind, die mir als erste einfallen, macht mir deutlich, wie »deutsch« ich längst wieder bin; oder eben wie lange es her ist, seit ich in Istanbul lebte.
Verkins Kommentar damals, als ich die traditionelle türkische épillage als die beste befand, weil schonend, hautfreundlich und außerdem gift- und abfallfrei: Die Deutschen mit ihrem Müllwahn sind schrecklich! Sie wühlen in ihrem Müll, dies hierhin, das dorthin – sogar aus dem Müll machen die eine Wissenschaft, als ob es nichts Interessanteres auf der Welt gäbe!
Trotzdem freut mich zu hören, dass in den Häusern heute das Wasser immer fließt oder fast immer – wobei ich nicht weiß, ob dies der neuen Regierung zu verdanken ist.
Mag wohl sein, dass es so ist.
So wie wir damals nicht für möglich hielten, dass sie, die Erdoğan als Oberbürgermeister gewählt hatten, eines Tages im ganzen Land, mit ihm an der Spitze, die Macht übernehmen würden.
An jenem Wahlabend im November 2002, wieder einmal war ich in Istanbul, nein, wir konnten es nicht glauben, als die ersten Hochrechnungen über den Bildschirm tanzten, dass wirklich wahr wurde, was die Prognosen zweifelsfrei vorausgesagt hatten. Lachend und verschreckt zugleich versuchten wir uns Mut zu machen: Aber das Kopftuch werden wir ganz sicher nicht tragen, davor wird uns das Militär bewahren!
Dass nun diese Regierung uns vor dem Militär bewahrt – niemals hätten wir es für möglich gehalten! Und dass wir ihnen dankbar sind, dass sie die Verschwörungskreise mit all ihren Umsturzplänen aufdecken – wenn auch noch nicht ganz klar ist, wer wirklich dahintersteckt.
Modern mahrem von Nilüfer Göle war das Buch, nach dem ich damals in der Kadın Eserleri Kütüphanesi gefragt hatte, jener von engagierten Akademikerinnen gegründeten Frauenbibliothek; ich fragte nach der deutschen Übersetzung, 1994 erschienen unter dem Titel Republik und Islam.
Ein Buch, das ziemlich viel Wind gemacht hatte, weil Frau Göle darin jene Gesellschaftsschichten untersucht, die mehr und mehr sich zu Wort meldeten, und deren neues Selbstverständnis so differenziert darstellt, dass deutlich wird, die alten Klischees von kopftuchtragenden Frauen als unterdrückten, ungebildeten, willenlosen Wesen sind längst überholt; und, dies vor allem, weil Frau Göle vorausschauend sah: Sie sind es, die eines Tages die neue Elite stellen werden –
The Anatolian Civilisations hatte mir einer jener alten Pionierfreunde empfohlen, nachdem ich ihm, begeistert von einer Reise quer durchs Land über Kütahya, Afyon und Akşehir bis nach Beyşehir, von der wunderbaren seldschukischen Moschee dort am See erzählt hatte.
Diese drei längst vergriffenen Bände – erschienen 1983 anlässlich einer gleichnamigen Ausstellung in Istanbul unter dem Patronat von The Council of Europe – hatte ich mir antiquarisch besorgen können und darin die Schönheit insbesondere der seldschukischen Malereien auf Vasen und Tellern und Fliesen bewundert, damals noch ohne genauere Vorstellung, wer eigentlich diese Seldschuken waren und woher sie kamen. Aber: Ich fragte mich nicht, wo denn die Armenier geblieben seien in diesem oft zitierten, vielgelobten Werk.
All die namhaften Historiker, Archäologen, Kunsthistoriker und auch alle Offiziellen, die für die Ausstellung verantwortlich zeichneten und Grußworte und Beiträge und Abhandlungen schrieben zu den Kulturen Anatoliens – wie konnten sie vom Palaeolithikum über Altassyrien zu den
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