Mitten in der Stadt - Borrmann, M: Mitten in der Stadt
noch mal!“, schimpfte er vor sich hin. Vor zwei Stunden war Joop da gewesen und hatte erklärt, dass Daniel Koller als vermisst galt und man davon ausgehen müsse, dass er nicht mehr lebte. Anschließend hatte Vincent Grube wie betäubt an seinem Schreibtisch gesessen, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Dann war er aufgesprungen und hatte sich in die Arbeit gestürzt. Er erwischte sich bei dem absurden Gedanken, wenn er den Tod Kollers aufklären könnte, gäbe es den Fall Daniel Koller nicht. Immer wieder hatte er seinen Besuch in der Wohnung Koller vor Augen gehabt. Die Kinder auf dem Sofa. Die hinkende Frau mit dem blauen Auge. Der Gaskocher und die Schwimmkerzen. Er hatte alles darangesetzt, die Bilder aus dem Kopf zu verbannen. Er wusste, dass auch sein Geschimpfe nur diesem einen Zweck diente.
Linda hatte, als Joop mit seinem Bericht geendet hatte, die Hände vors Gesicht geschlagen und sich zum Fenster gedreht. Minutenlang hatte sie unbeweglich hinausgestarrt. Dann hatte sie sich umgedreht, die Tränen mit dem Handrücken fortgewischt und mit fast kindlicher Stimme gesagt: „Ich wollte nie wieder mit so einem Fall zu tun haben. Bitte lasst mich da raus.“ Sie hatten sich geeinigt, dass Joop den Fall Daniel Koller übernehmen sollte. Grube und Linda würden sich um den Todesfall Andreas Koller kümmern.
Van Oss saß jetzt zusammen mit der Polizeipsychologin und Frau Koller unten in seinem Büro und versuchte herauszufinden, wo Daniels Leiche war.
Die Spurensicherung suchte nach Hinweisen in der Kollerwohnung, die Kollegen von der Streife befragten die Nachbarschaft.
Linda kam auf Grubes Schreibtisch zu.
„Lassen wir Schrewe und Berger gehen und bleiben dran“, sagte sie mit müder Stimme.
„Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht. Einer von beiden wird irgendwann einen Fehler machen.“
Grube sah auf seine Uhr und schimpfte: „Vierundzwanzig Stunden dürfen wir die hier behalten und so lange bleiben die auch. Anwälte hin oder her.“
Das Klingeln des Telefons begleitete seinen Satz.
Das Klingeln des Telefons änderte alles!
49
Dünn ist der Tag. Dünn und morsch. Er wird sie nicht halten, dieser Tag! Schon jetzt bricht er unter ihren Füßen weg. Das spürt sie genau.
Ganz langsam steigt sie in eine alte Zeit wie in ein dunkles Wasser. Ganz vorsichtig sucht sie nach der Frau mit den schweren Bewegungen, die so leicht aussehen. Versteckt in diesem Wasser findet sie sie.
Die Frau liegt mit dem neuen Baby noch im Krankenhaus. Sie will fort. Der Arzt sagt, sie sei zu schwach. Der Arzt sagt: Ihr Mann kümmert sich zu Hause sicher um alles.
Ganz freundlich sagt er das. Nicht ahnend, dass er sie mit diesem Satz zu Tode erschreckt.
Stück für Stück erzählte sie die Geschichte. Die Geschichte von der fremden Frau. Von der Frau aus dem Kellereingang. Von der Frau mit dem Bollerwagen.
Joop und die Polizeipsychologin hörten zu, beobachteten Martina Kollers Kampf. Immer wieder entstanden lange Pausen. Dann starrte sie vor sich hin, schien den Atem anzuhalten. Schweiß stand ihr auf der Stirn. Wenn sie nach minutenlangen Pausen sprach, reihte sie Worte monoton aneinander wie farblose Glasperlen auf ein brüchiges Band.
Die Fremde holt den Bollerwagen mit einem Klappspaten darin aus dem Keller, stellt ihn vor die Haustür. Mit ihren zähen Bewegungen geht sie die Treppe hinauf in Daniels Zimmer. Sie nimmt die braune Acryldecke vom Stuhl und hebt ihn aus seinem Bett. Die Wärme hat geholfen. Er ist nicht mehr steif. Aber leicht und still ist er. Sie wickelt ihn in die Decke, trägt ihn die Treppe hinunter, legt das Bündel in den Bollerwagen.
Sie zieht den Wagen durch die Straße, biegt rechts ab, in Richtung Promenade. Ein Ausflugsdampfer legt an. Menschen reden und lachen, gehen neben ihr, neben und hinter dem Wagen. Die untergehende Sonne hat dieses Gelbrot, das sich in einem breiten Band über den Fluss spannt.
Sie spürt den Holzgriff in der Hand, das Ruckeln der kleinen Räder, auf dem Pflaster aus rechteckigen Betonsteinen. Ein schöner, warmer Abend. Die Menschen sitzen in den Straßencafés und Biergärten. Ein Meer von Lichtern. Sie sehen ihr nach, tuscheln.
Das T-Shirt und der Jeansrock sind verdreckt. Das ist im Keller passiert, als sie den Bollerwagen geholt hat. Die Haare fallen ihr struppig auf die Schultern. Die Frau weiß, dass die Menschen um sie herum ihr nachsehen, über sie reden. Fahrräder kommen ihr entgegen. Sie geht weiter auf die blauen Verladekräne im
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