Mitternacht
neu zu gestalten, ohne ihn eines Tages blind anzubeten?« Er zwinkerte Tessa zu und sagte: »Das ist keine dumme Frage.«
Tessa runzelte die Stirn. »Das habe ich auch nicht gesagt. Manchmal vertrauen wir den Maschinen blind, wir neigen dazu, alles, was uns der Computer sagt, als Evangelismus zu betrachten...«
»Den alten Leitspruch zu vergessen«, warf Harry ein, »der da lautet >Müll rein, Müll raus<.«
»Genau«, stimmte Tessa zu. »Wenn wir Daten und Analy sen von Computern bekommen, tun wir manchmal so, als wären die Maschinen unfehlbar. Und das ist gefährlich, denn Computer können von einem Wahnsinnigen erdacht, entwickelt und angewendet werden, vielleicht nicht so leicht wie von einem gütigen Genie, aber ebenso wirksam.«
Sam sagte: »Aber die Menschen haben die Neigung - nein, sogar den Wunsch, den tiefempfundenen Willen -, von Maschinen abhängig zu sein.«
»Ja«, sagte Harry, »das liegt an unserer verdammten Veranlagung, Verantwortung, soweit es geht, von uns zu weisen. Der feige Wunsch, sich der Verantwortung zu entzie hen, ist in unseren Genen gespeichert, das schwöre ich, und wir bringen es in dieser Welt nur zu etwas, wenn wir unsere natürliche Neigung, vollkommen verantwortungslos zu sein, ständig bekämpfen. Manchmal frage ich mich, ob wir das vom Teufel bekommen haben, als Eva auf die Schlange hörte und den Apfel aß - diese Abneigung gegenüber Verantwortung. Das ist die Ursache der meisten Übel.«
Chrissie stellte fest, daß dieses Thema Harry aufbrachte. Er richtete sich mit seinem guten Arm und etwas Unterstützung durch das halb gesunde Bein höher in seinem Rollstuhl auf. Sein bisher blasses Gesicht bekam Farbe. Er ballte eine Hand zur Faust und sah sie durchdringend an, als hielte er etwas Kostbares in diesem festen Griff, als hielte er seinen Gedanken dort fest und wollte ihn nicht loslassen, bevor er ihn in allen Einzelheiten durchdacht hatte.
Er sagte: »Die Menschen stehlen und töten und lügen und betrügen, weil sie keine Verantwortung füreinander empfinden. Politiker wollen Macht, und sie wollen Ruhm, wenn ihre Politik erfolgreich war, aber sie übernehmen selten die Verantwortung, wenn etwas schiefgeht. Die Welt ist voller Menschen, die einem sagen wollen, wie man sein Leben zu leben hat, wie man sich den Himmel auf Erden schafft, aber wenn sich ihre Vorstellungen als schlecht erweisen, wenn es mit einem Dachau oder einem Gulag oder Massakern wie nach unserem Rückzug aus Südostasien endet, drehen sie sich um, sehen weg und tun so, als wären sie nicht für die Gemetzel verantwortlich.«
Er zitterte, und Chrissie zitterte auch, obwohl sie nicht sicher war, daß sie alles verstanden hatte, was er gesagt hatte.
»Mein Gott«, fuhr er fort, »wenn ich einmal darüber nachgedacht habe, dann habe ich tausendmal darüber nachgedacht, vielleicht zehntausendmal, und das wahrscheinlich nur wegen des Krieges.«
»Sie meinen Vietnam?« sagte Tessa.
Harry nickte. Er sah immer noch seine Faust an. »Wenn man im Krieg überleben wollte, mußte man jede Minute des Tages Verantwortung für sein eigenes Handeln übernehmen, ohne zu zögern. Und man mußte auch für seine Kameraden verantwortlich sein, denn man konnte nicht alleine, auf sich gestellt, überleben. Das ist vielleicht das einzige Po sitive daran, im Krieg zu kämpfen - er klärt das Denken und macht einem bewußt, daß Verantwortungsgefühl die guten Menschen, von den verdammten unterscheidet. Ich bedaure den Krieg nicht, nicht einmal angesichts dessen, was mir dort zugestoßen ist. Ich habe diese große Lektion gelernt, habe gelernt, in allen Belangen verantwortungsbewußt zu sein, und ich empfinde immer noch Verantwortung den Menschen gegenüber, für die wir gekämpft haben, das werde ich immer, und wenn ich manchmal daran denke, wie wir sie im Stich gelassen haben, an die Schlachtfelder, die Massengräber, dann liege ich nachts wach und weine, weil sie von mir abhängig waren; und in dem Maß, wie ich an dem Geschehen beteiligt war, habe ich sie im Stich gelassen und bin dafür verantwortlich.«
Sie schwiegen alle.
Chrissie verspürte einen eigentümlichen Druck in der Brust, dasselbe Gefühl, das sie immer in der Schule gehabt hatte, wenn ein Lehrer - irgendein Lehrer, irgendein Thema - über etwas redete, das ihr bislang unbekannt gewesen war und das sie so sehr beeindruckte, daß es ihren Eindruck von der Welt veränderte. Es kam nicht oft vor, aber es war stets ein furchteinflößendes und wunderbares
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