Mitternacht
Gefühl. Sie verspürte es jetzt auch, nach Harrys Worten, aber das Gefühl war zehnmal oder hundertmal stärker, als es jemals gewesen war, wenn ihr neues Wissen in Geographie oder Mathematik oder Naturwissenschaften vermittelt worden war.
Tessa sagte: »Harry, ich finde in diesem Fall ist Ihr Verantwortungsgefühl übertrieben.«
Er sah endlich von seiner Faust auf. »Nein. Niemals. Das Gefühl der Verantwortung für andere kann niemals übertrieben sein.« Er lächelte sie an. »Aber ich kenne Sie gerade gut genug, um zu vermuten, daß Ihnen das längst klar ist, Tessa, ob es Ihnen bewußt ist oder nicht.« Er sah Sam an und sagte: »Manche, die aus dem Krieg heimgekehrt sind, haben überhaupt nichts Gutes darin gesehen. Wenn ich sie treffe, vermute ich immer, daß sie die Lektion nie gelernt haben und gehe ihnen aus dem Weg - obwohl das wahrschein lich unfair ist. Aber ich kann nichts dafür. Wenn ich dagegen einen Mann treffe, der seine Lektion im Krieg gelernt hat, vertraue ich ihm von ganzen Herzen. Ich würde ihm von ganzer Seele vertrauen, und das scheint in unserem Fall ja zu sein, was sie uns nehmen wollen. Sie werden uns hier herausbringen, Sam.« Er machte die Faust auf. »Daran zweifle ich nicht im geringsten.«
Tessa schien überrascht. Sie sagte zu Sam: »Sie waren in Vietnam?«
Sam nickte. »Zwischen dem Junior College und dem FBI.«
»Aber das haben Sie nie erwähnt. Als wir heute morgen das Frühstück machten und Sie mir die Gründe aufgezählt haben, weshalb Sie die Welt so anders sehen als ich, haben Sie den Tod Ihrer Frau erwähnt, die Ermordung Ihrer Partner, die Situation mit Ihrem Sohn, aber nicht das.«
Sam betrachtete sein bandagiertes Handgelenk eine Weile und sagte schließlich: »Der Krieg ist das persönlichste Erlebnis meines Lebens.«
»Was für seltsame Worte.«
»Überhaupt nicht seltsam«, sagte Harry. »Das intensivste und persönlichste.«
Sam sagte: »Wenn ich nicht damit fertig geworden wäre, würde ich vielleicht immer noch darüber reden, wahrscheinlich ständig. Aber ich bin damit fertig geworden. Ich habe es verstanden. Und wenn ich mich jetzt beiläufig mit jemandem darüber unterhalten würde, den ich gerade erst kennengelernt habe, würde ich es wohl... abwerten, schätze ich.«
Tessa sah Harry an und sagte: »Aber Sie wußten, daß er in Vietnam war?«
»Ja.«
»Wußten es einfach irgendwie.«
»Ja.«
Sam hatte sich über den Tisch gebeugt. Jetzt ließ er sich auf den Stuhl zurücksinken. »Harry, ich schwöre, daß ich alles versuchen werde, uns hier herauszubringen. Ich wünschte nur, ich würde besser verstehen, womit wir es zu tun haben. Es geht alles von New Wave aus. Aber was genau haben sie getan, und wie kann man es aufhalten? Und wie soll ich damit fertig werden, wenn ich es nicht einmal verstehe'?«
Bis zu diesem Punkt hatte Chrissie den Eindruck gehabt, daß die Unterhaltung schlichtweg über ihren Horizont ging, obwohl alles faszinierend gewesen war und einiges das Ge fühl zu lernen in ihr ausgelöst hatte. Jetzt spürte sie, daß sie etwas beisteuern mußte: »Sind Sie wirklich sicher, daß es keine Außerirdischen gibt?«
»Wir sind sicher«, sagte Tessa und lächelte ihr zu, und Sam zerzauste ihr das Haar.
»Nun«, sagte Chrissie, »ich meine, vielleicht sind Außerirdische bei New Wave gelandet und haben es als Stützpunkt benützt, und vielleicht wollen sie uns alle in Maschinen verwandeln, so wie die Coltranes, damit wir ihnen als Sklaven dienen können - was vernünftiger scheint als uns zu essen, wenn man genauer darüber nachdenkt. Schließlich sind sie Außerirdische, und das bedeutet, sie haben außerirdische Mägen und außerirdische Verdauungssäfte, und wir würden ihnen Sodbrennen oder sogar Durchfall verschaffen.«
Sam, der auf dem Stuhl neben Chrissie saß, nahm ihre beiden Hände behutsam in seine, weil er sich ihrer Aufschürfung ebenso bewußt war wie seines zerschnittenen Handgelenks. »Chrissie, ich weiß nicht, ob du aufmerksam zugehört hast, was Harry gesagt hat...«
»O ja«, sagte sie sofort, »ganz genau.«
»Nun, dann wirst du begreifen, daß auch das, die Schrekken Außerirdischen in die Schuhe zu schieben, nur ein Weg ist, die Verantwortung von da abzuwälzen, wo sie wirklich hingehört - zu uns, den Menschen, und unserer sehr realen und sehr großen Fähigkeit, einander Böses anzutun. Es ist schwer vorstellbar, daß jemand, auch ein Verrückter, das aus den Coltranes machen wollte, was sie geworden
Weitere Kostenlose Bücher