Mitternachtskinder
Ich schaute an ihr vorbei zu den Hügeln, und sie folgte sofort meiner Blickrichtung. »Wir haben auf Sie gewartet.«
Dee starrte mich an, doch nicht auf die Art, wie Linnet es tat. Linnet sah zornig aus, vielleicht auch ängstlich. Sie schwieg eine Weile und erklärte schließlich: »Ich glaube, keiner von uns sollte jetzt hier draußen sein. Wir gehen zu den Wohnheimen zurück, und ich werde einfach vergessen, dass wir uns begegnet sind. Das wäre doch eine scheußliche Art, das Schuljahr zu beginnen – mit Schwierigkeiten.«
Als Linnet sich umdrehte, um uns zur Schule zurückzuführen, warf Dee mir einen bewundernden Blick zu. Nickend und mit den Augen rollend, wies sie auf Linnet, was unmissverständlich ausdrückte: Die spinnt!
Ich zuckte mit den Schultern und gestand Dee ein halbes Grinsen zu. Allerdings glaubte ich nicht, dass es irgendwelche Zweifel an Linnets Geisteszustand gab. Ich glaubte vielmehr, dass ich nicht der Einzige war, der dieser Musik bis in die Hügel gefolgt war.
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An:
James
Gestern abend war’s komisch. Wir können nicht reden wie früher, das fehlt mir. Nicht dass du hören möchtest, woran ich denke. Luke z.b. Jetzt weiß ich, was liebeskummer bedeutet. Wenn ich an ihn denke, wird mir speiübel.
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Dee
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James
T ag elf ( 11 )
(onze)
, den Strichen auf meiner linken Hand nach zu schließen. Die erste Woche – ganz schüchterne Vorstellungsrunden in den einzelnen Kursen und locker-flockige Hausaufgaben – war vorbei, und die zweite Woche zeigte nun Zähne. Da kamen sie zum Vorschein, die gigantischen Hausarbeiten, die vollgeschriebenen Tafeln und das allgemeine Ächzen und Stöhnen, was eben so zu einer Highschool gehört. Es war schon komisch: Im Stillen hatte ich tatsächlich gedacht, eine Schule voller Musikstreber würde anders sein als eine normale Highschool. Aber eigentlich bestand der einzige Unterschied darin, dass sich unsere Rollen danach bestimmten, wo wir im Orchester saßen. Blechbläser: Deppen. Holzbläser: Snobcliquen. Streicher: Superstreber, die sich zu absolut jeder Frage meldeten. Schlagwerk: Klassenclowns.
Sackpfeifer: ich.
Der einzige Unterricht, an dem sich in der zweiten Woche nicht viel änderte, war Englisch bei Mr.Sullivan: erste Stunde am Dienstag, Donnerstag und Samstag. Koffein war selbst mitzubringen. Er erlaubte uns, im Klassenzimmer Kaffee zu trinken. Alles andere wäre aber auch ungeheuer scheinheilig gewesen.
Sullivan hatte das Schuljahr damit begonnen, dass er auf seinem Schreibtisch saß und während des Unterrichts auf der Stereoanlage Musik laufen ließ. Die anderen Lehrer ließen es erst locker angehen, knöpften den Kragen in der zweiten Woche wieder zu und machten Ernst. Sullivan hingegen blieb derselbe, ein junger, dünner, knochiger Botschafter für Shakespeare und Kollegen. Schon in der ersten Woche hatte er uns mörderisch viel Lesestoff aufgegeben, und auch daran änderte sich nichts. Das hätte uns vielleicht mehr ausgemacht, wenn er uns nicht erlaubt hätte, Kaffee zu trinken, unsere Tische so herumzurücken, wie wir sie haben wollten, und nötigenfalls zu fluchen.
»Wir werden uns mit
Hamlet
beschäftigen«, verkündete Sullivan an Tag elf. Er hielt einen riesigen Thermobecher in der Hand, der Kaffeeduft im ganzen Raum verbreitete. Ich hatte ihn noch nie ohne Kaffee gesehen. Als einer der jüngsten Lehrer wohnte er auf dem Schulgelände und war gleichzeitig Betreuer unseres Wohnheims. Es hieß, seine Frau habe ihn wegen des Geschäftsführers einer Firma verlassen, die
Mein kleines Pony
oder so einen Mist herstellte. Im Flur vor seinem Zimmer roch es ständig so, als betrete man gleich einen Kaffeetempel. »Wie viele von euch haben das Stück schon gelesen?«
Die Klasse war klein, sogar nach den Standards der Thornking-Ash: acht Schüler. Niemand hob die Hand.
»Banausen«, meinte Sullivan freundlich. »Na ja, es ist wahrscheinlich besser, dass ihr alle
Hamlet-
Jungfrauen seid. Ich nehme doch an, ihr habt zumindest von dem Stück gehört.«
Zustimmendes Gemurmel. Ich hatte
Hamlet
nicht gelesen, stand aber mit Shakespeare auf gutem Fuß. Von dem Moment an, da ich »Die ganze Welt ist eine Bühne und alle Frauen und Männer bloße Spieler« gehört hatte, fand ich Shakespeare echt okay. Ich hatte keine Fanposter von ihm an der Wand oder so, aber wenn
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