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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Karriereleiter empor oder trugen Birkenstocks, während die Rockratten zu Kannibalen geworden waren und sich gegenseitig in Stücke gerissen hatten. Ohne die Angabe, welche Band sich die Rockratten anhören mussten, weiß ich nicht, was das beweisen soll. Ich weiß nur: Wenn ich mir zwei Wochen lang ununterbrochen Pearl Jam anhören müsste, würde ich auch meinen Zimmernachbarn fressen.
    Ich wusste, dass dies der siebte Abend war, weil ich sieben Striche auf dem rechten Handrücken hatte. Sechs gerade und den siebten schräg hindurch. Ich saß da in meiner eigenen kleinen grauen Welt und drehte die Bässe so auf, dass ich sie in den Pobacken spürte. In den Wohnheimen galt ein strenges Lärmlimit, vor allem für die Stunden des Tages, an denen die Möglichkeit bestand, dass ein Schüler üben könnte. Deshalb war es schwer, hier einen Platz zu finden, an dem man Musik hören konnte. Wenn das keine Ironie war …
    Ich sah zu, wie die sinkende Sonne mein Wohnheim in stechend rotes Licht tauchte. Im Gegensatz zu den übrigen Gebäuden auf dem Schulgelände, alles imposante Bauwerke im georgianischen Stil mit Säulenvorbau, waren bei den Unterkünften keine Ambitionen zu erkennen. Es waren eher Kästen mit tausend starren Fensteraugen.
    Die Musik im Auto war so laut, dass ich das Klopfen am Fenster erst nicht hörte. Als ich es dann bemerkte, überraschte mich das Gesicht, das zu mir hereinschaute, schon irgendwie: rund, durchschnittlich, unsicher. Mein Zimmergenosse Paul. Er spielte Oboe. Die von der Schule dachten wohl, wir würden uns verstehen, weil unsere Instrumente beide ein Doppelrohrblatt hatten oder so, denn ansonsten hatten wir wirklich nicht viel gemeinsam. Ich kurbelte das Fenster herunter.
    »Wollen Sie Pommes dazu?«, fragte ich.
    Paul lachte viel zu laut und sah dann ganz so aus, als sei er stolz auf seinen eigenen Wagemut. Ich glaube, er hatte Angst vor mir.
    »Mann, das ist echt witzig.«
    »Nur eine meiner besonderen Dienstleistungen. Was gibt’s?«
    »Ich war gerade auf dem Weg ins Zimmer und wollte die … du weißt schon …« Er wedelte mit einem Notizbuch vor mir herum, als müsste mir das etwas sagen. »… Mathehausaufgaben machen. Willst du noch daran arbeiten?«
    »Ob ich will? Nein. Ob ich Hilfe brauche? Ja.« Ich stellte das Radio leiser. Plötzlich merkte ich, dass ich Gänsehaut an den Armen hatte, obwohl es so heiß war. Ich zog den Arm ins Auto. Mein hellsichtiges Unterbewusstsein flüsterte mir Dinge in irgendeiner Sprache zu, die ich nicht verstand. Kalt durchflutete mich die subtile Warnung:
Hier geht etwas Merkwürdiges vor.
Ich dachte, ich hätte dieses Gefühl hinter mir gelassen, weil ich es seit dem Sommer nicht mehr gespürt hatte. Trotzdem schaffte ich es, Pauls Blick zu erwidern. »Ja, klar.«
    Ein Ausdruck der Erleichterung breitete sich auf Pauls Gesicht aus, als hätte er etwas anderes erwartet. Er begann über unseren Mathelehrer und die anderen in der Klasse zu schwafeln. Selbst wenn ich nicht von der Eiseskälte abgelenkt gewesen wäre, die über meine Haut kroch, hätte ich nicht zugehört. Die Leute reden zu viel, und wenn man den Anfang und den letzten Teil von dem hört, was sie sagen, dann ergibt sich die Mitte meistens von allein.
    Plötzlich brachte mich ein Halbsatz dazu, meine Aufmerksamkeit wieder auf Paul zu richten. Es war wie eine einzelne Stimme, die sich aus allgemeinem Gemurmel erhebt, und ich drehte den Knopf am Radio ganz herum und schaltete es aus.
    »Hast du gerade gesagt ›So singen die Toten‹?«
    Paul runzelte die Stirn. »Was?«
    »So singen die Toten. Hast du das gesagt?«
    Energisch schüttelte er den Kopf. »Nein, ich habe gesagt ›singt man den Ton‹. Ich hatte Singen vom Blatt. Bei …«
    Ich öffnete die Autotür und nickte, ehe er zu Ende gesprochen hatte. Obwohl das Radio ausgeschaltet war, hörte ich Musik. Und sie zerrte an mir, erschien mir wichtig auf eine Art, auf die Paul niemals wichtig sein würde. Ich musste mir Mühe geben, um einen vollständigen Satz für ihn zustande zu bringen. »Hey, treffen wir uns doch gleich in unserem Zimmer, ja? Ich brauch noch ein paar Minuten.«
    Es war, als hätte dieser falsch gehörte Halbsatz –
So singen die Toten –
eine Tür geöffnet, durch die ich jetzt Musik wahrnahm. Drängende, beharrliche Musik: eine schwungvolle Melodie in Moll mit einer Menge seltsamer, archaischer Versetzungszeichen. Sie wurde von einer tiefen Männerstimme gesungen, die mich irgendwie an alles erinnerte,

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