Mitternachtskinder
Armaturenbrett. »Ja.«
»James?«
»Ja.«
»Wer spricht denn da?«
»Dein geliebter Sohn. Die Frucht deines Leibes und die von Dads Lenden, nachdem ich weiß Gott wie lange schon ein schmutziger Gedanke …«
Mom fiel mir ins Wort. »Das hört sich an, als ob du in einem Windkanal steckst.«
»Ich bin im Auto.«
»In einem Windkanal?«
Ich beugte mich vor und rückte das Handy ein Stück näher. »Ich habe auf Freisprechen gestellt. So besser?«
»Kaum. Warum fährst du überhaupt Auto? Es ist doch mitten am Tag, und du hast Schule, oder nicht?«
Ich klemmte das Mobiltelefon zwischen Himmel und Sonnenblende. Vermutlich würde sie immer noch ein lautes Rauschen hören, aber mehr würde ich ihr nicht bieten. »Wenn du das weißt, warum hast du dann angerufen?«
»Schwänzt du etwa?«
Ich kniff die Augen zusammen und las die Straßenschilder. Auf einem kleinen Schild mit der Aufschrift »Gallon, VA , historisches Stadtzentrum« (das VA fand ich ziemlich überflüssig, denn wer bis hierher gekommen war, müsste längst wissen, dass er sich im Bundesstaat Virginia befand) zeigte ein Pfeil nach links. »Nein, Mom. Schwänzen ist was für Loser, die nirgends Arbeit finden und direkt in den Knast wandern.«
Mom machte eine kurze Pause, denn sie erkannte ihre eigenen Worte; ich hatte sie außerdem mit Fistelstimme und in ihrem leichten schottischen Akzent vorgetragen. »So ist es«, erwiderte sie dann. »Also, wo fährst du hin?«
Ich betrachtete die malerische, aber ökonomisch mangelhafte Hauptstraße von Gallon und antwortete: »Ich bin unterwegs zum Unterricht. Und ehe du fragst: Es geht um meine Dudelsackstunden. Und ehe du fragst: Nein, die Thornking-Ash hat keinen eigenen Sackpfeifenlehrer. Und ehe du fragst: Nein, ich weiß auch nicht, warum sie einem Schüler ein Stipendium geben sollten, dessen Hauptinstrument der Dudelsack ist, wenn man die Antwort auf Frage Nummer zwei bedenkt.« Schüler der Thornking-Ash mussten für zwei Jahre ein musikalisches Hauptfach belegen, um die Noten zu erhalten, die wir nachher für erfolgreiche Bewerbungen an den Universitäten brauchen würden. Daher die Dudelsackstunden.
»Und wer ist dein Lehrer? Kann er was?« Mom klang zweifelnd.
»Mom. Ich will nicht darüber nachdenken. Das wird nur entsetzlich deprimierend, und du weißt doch, dass ich der Welt gern ein angstfreies, fröhliches Gesicht zeige.«
»Erinnerst du mich bitte noch mal daran, warum du überhaupt dort bist, wenn nicht deiner Musik wegen?«
Das wusste sie verdammt genau, aber sie wollte, dass ich es aussprach. Ha. Ha, ha! Kam gar nicht in Frage. »Gebrauche deine mütterliche Intuition. Hey, ich glaube, ich habe die Adresse gefunden. Ich muss Schluss machen.«
»Ruf mich an«, sagte Mom. »Später. Wenn du nicht mehr so scharfzüngig bist.«
Ich parkte vor dem Musikgeschäft Evans-Brown. Allmählich vermutete ich, dass es in dieser Gegend Tradition war, allem und jedem einen Doppelnamen zu verpassen. »Ist gut. Ich merke mir einen Termin vor. Sagen wir, wenn ich dreißig bin, ja?«
»Halt den Mund.« Moms Stimme war voller Zuneigung, und einen Moment lang wallte mächtiges, kindisches Heimweh in mir auf. »Du fehlst uns. Pass gut auf dich auf. Und ruf mich nachher an. Nicht erst, wenn du dreißig bist.«
Ich versprach es ihr und legte auf. Dann holte ich meinen Dudelsackkoffer aus dem Kofferraum und betrat den Musikladen. Im Gegensatz zu der kränklich grünen Fassade wirkte das Innere warm und einladend mit dem dunkelbraunen Teppichboden und den goldbraunen Wandpaneelen hinter den aufgereihten Gitarren. Ein alter Mann, dem anscheinend die Sechziger nicht gut bekommen waren, saß hinter einem Tresen und las eine Ausgabe des
Rolling Stone
. Als er zu mir aufblickte, entdeckte ich, dass sein silberfarbenes Haar hinten zu einem straffen kleinen Zopf geflochten war.
»Ich komme zum Musikunterricht«, erklärte ich.
Er betrachtete etwas auf dem Ladentisch. Währenddessen musterte ich die Tätowierungen an seinen Armen; die größte davon war ein Zitat aus einem der radikaleren Songs von John Lennon. Er fragte: »Um wie viel Uhr?«
Ich deutete auf meine Hand. Mit zusammengekniffenen Augen suchte er meinen Handrücken ab, bis er die entsprechende Notiz gefunden hatte.
»Drei Uhr? Da bist du ja pünktlich.«
Ich warf einen Blick auf die Wanduhr hinter ihm, die zwischen Flyern und Postkarten hing. Danach war es exakt zwei Minuten vor drei. Es ärgerte mich ein bisschen, dass er zur vollen Stunde
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