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Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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urteilte Michael und kramte das Wort hervor, das dem Höchsten aller Superlative vorbehalten war. »Warum entwirft jemand so ein Gebäude?«
    »Ich bin nicht sicher, ob ich die Antwort wissen will«, entgegnete Roshan. »Lass uns nach unten gehen. Hier ist nichts.«
    Michael nickte abwesend und folgte Roshan in Richtung Treppe.
    Das Zwischengeschoss unter der Aussichtsplattform in der Kuppel war kaum anderthalb Meter hoch und von eindringendem Regenwasser überschwemmt, nachdem es seit Anfang Mai geregnet hatte. Auf dem Boden stand eine abgestandene, brackige Brühe, von der ein ekelerregender Gestank aufstieg; darunter befand sich eine Masse aus Schlamm und Schutt, der sich nach über zehn Jahren durch die Feuchtigkeit zersetzt hatte. Michael und Roshan, die sich bücken mussten, um das niedrige Zwischengeschoss zu betreten, kämpften sich mühsam durch den knöcheltiefen Morast.
    »Das ist ja schlimmer als in den Katakomben«, bemerkte Roshan. »Warum zum Teufel ist dieses Geschoss so verdammt niedrig? Die Menschen sind schon seit Jahrhunderten größer als anderthalb Meter.«
    »Wahrscheinlich ist dieser Bereich nicht öffentlich«, mutmaßte Michael. »Womöglich befindet sich hier ein Teil der Widerlager der Kuppel. Pass auf, dass du nicht stolperst. Kann sein, dass sonst alles einstürzt.«
    »Ist das ein Witz?«
    »Ja«, entgegnete Michael trocken.
    »Das war der dritte Witz, den ich in sechs Jahren von dir gehört habe«, bemerkte Roshan. »Und es war der schlechteste.«
    Michael gab keine Antwort und kämpfte sich langsam weiter durch diesen paradoxen Sumpf in luftiger Höhe. Der Gestank des fauligen Wassers stieg ihm zu Kopf, und er erwog die Möglichkeit, wieder umzukehren und sich eine andere Ebene vorzunehmen, denn er bezweifelte, dass sich etwas oder jemand in diesem undurchdringlichen Morast verbarg.
    »Michael?«, hörte er Roshan ein paar Meter hinter sich.
    Er drehte sich um und sah, wie sich Roshan über die Querstrebe eines großen Metallträgers beugte.
    »Michael«, fragte er beunruhigt, »kann es sein, dass sich dieser Träger bewegt, oder bilde ich mir das nur ein?«
    Michael vermutete, dass auch sein Freund zu lange diese fauligen Dämpfe eingeatmet hatte, und wollte endgültig das Zwischengeschoss verlassen, als er ein lautes Geräusch am anderen Ende des Ganges hörte. Die beiden fuhren gleichzeitig herum und sahen sich an. Das Geräusch war erneut zu hören, doch diesmal sahen die beiden Jungs, wie etwas mit großer Geschwindigkeit unter dem Schlamm auf sie zukam und dabei Unrat und schmutziges Wasser aufwirbelte, das gegen die niedrige Decke spritzte. Die beiden Freunde warteten keine Sekunde länger und stürzten in Richtung Ausgang, so schnell es eben ging, wenn man gebückt durch dreißig Zentimeter Schlamm und Wasser stapfte.
    Sie waren noch keine paar Meter weit gekommen, als dieses Etwas an ihnen vorbeischoss, vor ihnen umdrehte und dann erneut geradewegs auf sie zukam. Roshan und Michael trennten sich und rannten in verschiedene Richtungen davon, um das Ding zu verwirren, das sie gnadenlos verfolgte. Doch die Kreatur unter dem Schlamm teilte sich, und jede der Hälften jagte hinter einem der beiden Jungen her.
    Michael sah keuchend und japsend zurück, um zu sehen, ob er noch verfolgt wurde, als er mit dem Fuß gegen eine im Schlamm verborgene Stufe stieß. Er fiel der Länge nach hin und wurde von dem fauligen Wasser verschluckt. Als er wieder auftauchte und die brennenden Augen öffnete, erhob sich vor ihm eine Säule aus dem Schlamm, wie eine Figur aus heißer Schokolade, die jemand aus einem unsichtbaren Krug goss. Michael kroch durch den Schlamm davon, doch er rutschte aus und fiel erneut der Länge nach in den Morast.
    Die Gestalt aus Lehm streckte zwei lange Arme aus, an deren Enden sich lange, in schweren Eisenhaken auslaufende Finger befanden. Michael beobachtete entsetzt die Entstehung dieses unheimlichen Golems und sah, wie sich aus dem Rumpf ein Kopf herausformte, der seine langen, messerscharfen Reißzähne bleckte. Dann festigte sich die Gestalt, und von dem trocknenden Ton stieg eine dünne Dampfschicht auf. Michael stand auf und hörte ein Knacken, während sich in dem Tongebilde Hunderte von Rissen bildeten. Die Sprünge im Gesicht wurden langsam breiter, und Jawahals Feueraugen leuchteten daraus hervor. Der trockene Lehm zersprang zu einem Mosaik aus unendlich vielen Scherben. Jawahal packte Michael an der Gurgel und zog den Jungen zu sich heran.
    »Bist du der

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