Mitternachtspalast
Ian und sah zu seinem Freund hinauf, der etwa fünfzehn Meter über ihm stand.
Seth schüttelte den Kopf und betrat dann den schmalen Steg. Zwei Meter vor dem Körper, der am Strick baumelte, blieb er erneut stehen, und Ian sah, wie sich das Gesicht seines Freundes verzerrte.
»Seth? Was ist, Seth?«
Dann ging alles ganz schnell, und Ian konnte nichts anderes tun, als das furchtbare Schauspiel mit anzusehen, das sich vor seinen Augen abspielte. Seth hockte sich hin, um das Seil zu lösen, an dem der Körper hing, doch als er es packte, schlang sich das Seil um seine Beine wie eine Schlange, und der reglose Körper stürzte in die Tiefe. Ian sah, wie sich das Seil um das Bein seines Freundes wickelte und ihn in die dunkle Kuppel hinaufzog wie eine leblose Puppe. Seth, mit einem Fuß im Seil verfangen, zappelte und schrie laut um Hilfe, während sein Körper mit beängstigender Geschwindigkeit senkrecht nach oben schoss und aus der Sicht verschwand.
Währenddessen stürzte der andere Körper nach unten und landete in der Blutlache. Ian stellte fest, dass sich unter dem glänzenden Umhang nur noch die Überreste eines Skeletts befanden, dessen Knochen beim Aufprall auf den Boden zersplitterten und zu Staub zerfielen. Der Umhang sank über dem dunklen Fleck zusammen und saugte sich voll. Ian ging näher ran. Als er den Stoff untersuchte, erkannte er den Umhang wieder, den er während seiner schlaflosen Nächte in St. Patrick’s so oft um die Schultern der Weißen Dame gesehen zu haben glaubte, die seinen Freund Ben im Schlaf besuchte.
Er blickte erneut nach oben, in der Hoffnung auf eine Spur von seinem Freund Seth, doch die undurchdringliche Finsternis hatte ihn verschluckt. Nichts wies mehr auf seine Gegenwart hin außer dem ersterbenden Echo seiner Schreie, das durch die kathedralenartige Kuppel hallte.
»Hast du das gehört?«, fragte Roshan und blieb stehen, als er die Schreie hörte, die aus der Tiefe des riesigen Gebäudes zu kommen schienen.
Michael nickte. Die Schreie verhallten, und bald waren die beiden nur mehr vom gleichmäßigen Prasseln des Regens auf der Kuppel umgeben, unter der sie sich befanden. Sie waren bis zur obersten Ebene von Jheeter’s Gate hinaufgestiegen und hatten von dort einen atemberaubenden Ausblick auf den riesigen Bahnhof. Die Bahnsteige und Gleise wirkten weit weg, und das luftige Geflecht der Bögen und übereinandergelagerten Ebenen war von hier viel deutlicher zu erkennen.
Michael blieb an einem eisernen Geländer stehen, das über der Uhr, die sie vorhin passiert hatten, in den leeren Raum hervorragte. Durch seine bildhafte Wahrnehmung war ihm der hypnotische Effekt dieser Flucht aus Hunderten von Eisenträgern bewusst, die vom Mittelpunkt der Kuppel ausgingen und sich in einer endlosen Wölbung verloren, die nie den Boden zu erreichen schien. An diesem herausragenden Beobachtungsposten überkam den Betrachter das Gefühl, dass der Bahnhof wie ein unergründlicher Turm zu Babel in den Himmel emporwuchs, der sich in die Wolken hinaufwand wie eine byzantinische Säule. Roshan trat zu ihm und warf einen kurzen Blick auf die schwindelerregende Aussicht, die seinen Freund in ihren Bann zu ziehen schien.
»Dir wird noch schwummrig werden. Los, gehen wir weiter.«
Michael hob abwehrend die Hand.
»Nein, warte. Komm mal her.«
Roshan schaute kurz über den Rand des Geländers.
»Wenn ich noch einmal da runtersehe, falle ich.«
Ein unergründliches Lächeln erschien auf Michaels Gesicht. Roshan sah seinen Begleiter an, während er sich fragte, was er entdeckt haben mochte.
»Fällt dir nichts auf, Roshan?«, fragte Michael.
Sein Freund schüttelte den Kopf.
»Sag’s mir.«
»Diese Bauart. Wenn du die Flucht von diesem Punkt der Kuppel aus betrachtest, siehst du es.«
Roshan versuchte Michaels Anweisungen zu folgen, aber das Objekt seiner Beobachtungen gab sich nicht zu erkennen.
»Was versuchst du mir zu sagen?«
»Ganz einfach. Dieser Bahnhof, ganz Jheeter’s Gate ist nichts anderes als eine riesige Kugel, von der wir nur den Teil sehen, der sich an der Oberfläche befindet. Der Uhrenturm steht genau in der Mitte der Kuppel, als wollte er den Radius anzeigen.«
Roshan rissen Michaels Erklärungen nicht vom Hocker.
»Also gut. Es ist ein gottverdammter Ball«, räumte er ein. »Und?«
»Weißt du, wie schwierig es ist, so was zu bauen?«, fragte Michael.
Sein Freund schüttelte erneut den Kopf.
»Ziemlich schwierig vermutlich«, sagte er.
»Kolossal«,
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