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Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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erkennen, wer da oben baumelte. Schon der Gedanke, dass es sich um Isobel, Siraj oder Sheere handeln könnte, wollte ihm nicht in den Kopf. Plötzlich schien ein flüchtiger Lichtreflex die Pfütze zu seinen Füßen zu erhellen, doch als Ian nach unten blickte, war nichts mehr zu sehen.
     
    Jawahal schleifte Sheere durch den gespenstischen Zug, der im Tunnel stand, bis zum ersten Waggon gleich hinter der Lokomotive. Ein intensives orangerotes Licht drang unter den Türen des Waggons hindurch, und das wütende Schnaufen eines Dampfkessels war aus seinem Inneren zu hören. Sheere merkte, wie die Temperatur beträchtlich anstieg und sich all ihre Poren beim Kontakt mit der glühend heißen, sengenden Luft öffneten, die von diesem Ort ausging.
    »Was ist da drin?«, fragte Sheere beunruhigt.
    Jawahal schloss seine Finger um ihren Arm wie einen Schraubstock und zerrte sie weiter.
    »Die Feuermaschine«, antwortete er, öffnete die Tür und schob das Mädchen hindurch. »Sie ist mein Zuhause und mein Gefängnis. Aber durch dich wird bald alles anders werden, Sheere. Nach so vielen Jahren sind wir endlich wieder zusammen. Hast du dir das nicht immer gewünscht?«
    Sheere schützte ihr Gesicht vor der beißenden Luft, die ihr entgegenschlug, und spähte durch die Finger hindurch in das Innere des Waggons. Eine riesige Maschine mit großen Dampfkesseln, die durch ein endloses Gewirr von Leitungen und Ventilen miteinander verbunden waren, fauchte und stampfte, als wollte sie gleich in die Luft fliegen. Aus den Dichtungen dieser monströsen Erfindung quollen Dampf und Gas, die einen intensiven Kupferton annahmen. Auf einer Metallplatte mit einer ganzen Reihe von Druckventilen und Manometern entdeckte Sheere einen eingeprägten Adler, der sich majestätisch aus den Flammen erhob. Unter dem Vogel erkannte Sheere einige Wörter in einem ihr unbekannten Alphabet.
    »Der Feuervogel«, sagte Jawahal neben ihr. »Mein Alter Ego.«
    »Mein Vater hat diese Maschine gebaut«, murmelte Sheere. »Sie haben kein Recht, sie zu benutzen. Sie sind ein Dieb und ein Mörder.«
    Jawahal sah sie nachdenklich an und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
    »Was für eine Welt haben wir geschaffen, in der nicht einmal die Unbedarften glücklich sein können?«, sagte er dann. »Wach auf, Sheere.«
    Das Mädchen sah Jawahal verächtlich an.
    »Sie haben ihn umgebracht …«, warf sie ihm mit hasserfülltem Blick vor.
    Jawahals Lippen verzogen sich zu einer stummen, grotesken Grimasse. Sekunden später begriff Sheere, dass er lachte. Jawahal drückte sie sanft gegen die heiße Wand des Waggons und deutete mit einem anklagenden Finger auf sie.
    »Du bleibst hier stehen und rührst dich nicht vom Fleck«, befahl er.
    Sheere sah, wie Jawahal zu der stampfenden Maschine des Feuervogels trat und seine Hände auf das glühende Metall des Kessels legte. Seine Hände klebten an der Oberfläche fest, und das Mädchen konnte den Gestank verbrannter Haut riechen und hörte das schauderhafte Geräusch, mit dem das Fleisch verschmorte. Jawahal öffnete langsam die Lippen und schien den Dampf aufzusaugen, der im Waggon hing. Dann drehte er sich um und grinste, als er das entsetzte Gesicht des Mädchens sah.
    »Hast du Angst vor dem Spiel mit dem Feuer? Dann spielen wir eben etwas anderes. Wir dürfen deine Freunde nicht enttäuschen.«
    Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ Jawahal den Kessel los und ging ans Ende des Waggons, um einen großen Weidenkorb zu holen. Dann kam er mit einem beunruhigenden Lächeln auf den Lippen auf Sheere zu.
    »Weißt du, welches Tier dem Menschen am ähnlichsten ist?«, fragte er freundlich.
    Sheere schüttelte den Kopf.
    »Ich sehe, die Erziehung, die deine Großmutter dir angedeihen ließ, ist armseliger, als man annehmen sollte. Ein Vater lässt sich durch nichts ersetzen …«
    Er öffnete den Korb und griff hinein. In seinen Augen lag ein boshaftes Funkeln. Als seine Hand wieder zum Vorschein kam, hielt er darin den unheimlichen, glänzenden Körper einer Schlange. Eine Viper.
    »Das ist das Tier, das dem Menschen am ähnlichsten ist. Es kriecht auf dem Boden und häutet sich nach Belieben. Es raubt die Jungen anderer Spezies aus den Nestern und frisst sie auf, ist aber nicht in der Lage, sich ihnen im offenen Kampf zu stellen. Seine Spezialität aber ist es, bei der erstbesten Gelegenheit seinen tödlichen Biss anzubringen. Es hat nur Gift für einen einzigen Biss und braucht Stunden, um sich wieder zu erholen, aber wer

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