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Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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seine Male trägt, ist zu einem langsamen, sicheren Tod verurteilt. Wenn das Gift in die Adern dringt, schlägt das Herz des Opfers immer langsamer, bis es schließlich stehen bleibt. Auch dieses kleine, niederträchtige Tierchen hat einen gewissen Hang zur Poesie, wie der Mensch. Aber anders als er würde es niemals seine Artgenossen angreifen. Ein Fehler, findest du nicht? Vielleicht ist es deswegen zur Attraktion verkommen, mit der die Fakire auf den Straßen die Schaulustigen unterhalten. Es kann immer noch nicht mit der Krone der Schöpfung mithalten.«
    Jawahal hielt Sheere das Tier entgegen, und das Mädchen presste sich an die Wand. Als er die Angst in ihren Augen bemerkte, lächelte er belustigt.
    »Wir fürchten immer das, was uns am ähnlichsten ist. Aber keine Sorge«, beruhigte er sie, »sie ist nicht für dich bestimmt.«
    Er nahm ein Kästchen aus rotem Holz und legte die Schlange hinein. Sheere atmete auf, als das Reptil aus ihrem Blickfeld verschwand.
    »Was haben Sie mit ihr vor?«
    »Wie gesagt, es geht um ein kleines Spiel«, erklärte Jawahal. »Wir haben heute Nacht Gäste und müssen ihnen Unterhaltung bieten.«
    »Was für Gäste?«, fragte das Mädchen und betete, dass Jawahal nicht ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigen würde.
    »Eine überflüssige Frage, meine liebe Sheere. Heb dir deine Fragen für die wirklich wichtigen Dinge auf. Zum Beispiel, ob unsere Freunde das Tageslicht wiedersehen. Oder wie lange es dauert, bis unsere kleine Freundin hier mit ihrem Kuss ein junges, gesundes, sechzehnjähriges Herz stillstehen lässt. Die Rhetorik lehrt uns, dass dies Fragen mit Sinn und Struktur sind. Wenn du dich nicht ausdrücken kannst, Sheere, dann kannst du auch nicht denken. Und wenn du nicht denken kannst, bist du verloren.«
    »Das sind die Worte meines Vaters«, sagte Sheere vorwurfsvoll. »Er hat sie geschrieben.«
    »Ich sehe, wir haben die gleichen Bücher gelesen. Gibt es eine bessere Grundlage für ewige Freundschaft, meine liebe Sheere?«
    Das Mädchen hörte sich schweigend Jawahals kleinen Vortrag an, ohne den Blick von dem roten Holzkästchen mit der Schlange abzuwenden, während sie sich vorstellte, wie sich der Schlangenkörper darin wand. Jawahal hob die Augenbrauen.
    »Gut«, schloss er. »Jetzt wirst du mich für einen Moment entschuldigen; ich muss letzte Vorbereitungen für den Empfang unserer Gäste treffen. Hab Geduld und warte auf mich. Es lohnt sich.«
    Mit diesen Worten packte Jawahal Sheere und brachte sie zu einem winzigen Verschlag, den man durch eine kleine Tür in einer der Tunnelwände betrat und der früher einmal zur Aufbewahrung der Sicherungsbolzen für die Weichen gedient hatte. Er stieß das Mädchen hinein und stellte das rote Kästchen vor ihre Füße. Sheere sah ihn flehend an, doch Jawahal schlug die Tür hinter ihr zu und ließ sie in völliger Dunkelheit zurück.
    »Holen Sie mich bitte hier raus«, flehte sie.
    »Ich komme dich bald holen, Sheere«, flüsterte Jawahals Stimme auf der anderen Seite der Tür. »Und dann wird uns niemand mehr trennen.«
    »Was haben Sie mit mir vor?«
    »Ich werde in dir weiterleben, Sheere. In deinem Geist, in deiner Seele, in deinem Körper«, antwortete Jawahal. »Bevor der Tag anbricht, werden deine Lippen meine sein, und deine Augen werden sehen, was ich sehe. Morgen wirst du unsterblich sein, Sheere. Was kann man mehr verlangen?«
    Das Mädchen schluchzte in der Dunkelheit.
    »Warum tun Sie das alles?«, wimmerte sie.
    Jawahal schwieg einen Moment.
    »Weil ich dich liebe, Sheere …«, antwortete er dann. »Und du kennst doch das Sprichwort: Wir töten das, was wir am meisten lieben.«
     
    Nach endlos langem Warten erschien Seth endlich am Rand der Plattform, die oben an der Kuppel entlanglief. Ian atmete erleichtert auf.
    »Wo hast du denn so lange gesteckt?«, rief er hinauf.
    Seine Stimme hallte durch den Raum und hielt eine merkwürdige Zwiesprache mit ihrem eigenen Echo. Die schwache Hoffnung, während ihrer Erkundungstour unbemerkt zu bleiben, löste sich unversehens in Luft auf.
    »Es ist gar nicht so leicht, hier raufzukommen«, brüllte Seth. »Dieses Gebäude ist ein einziges Gewirr von dunklen Gängen und Korridoren, fast wie in einer ägyptischen Pyramide. Sei froh, dass ich mich nicht verlaufen habe.«
    Ian nickte und bedeutete Seth, zu dem Laufgang zu gehen, der zum Kronleuchter führte. Seth lief die Plattform entlang und blieb am Anfang des Laufgangs stehen.
    »Stimmt was nicht?«, fragte

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