Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
Vom Netzwerk:
junger Mensch geglaubt hast, falsch war, während sich alles, was du in der Jugend nicht glauben wolltest, als wahr erweist. Wann gedenkst du, erwachsen zu werden, mein Sohn?«
    »Ich glaube nicht, dass mich Ihre Philosophie interessiert«, erklärte der Junge verächtlich.
    »Die Zeit wird dich noch an sie erinnern, mein Sohn.«
    Ben sah Jawahal hasserfüllt an.
    »Was wollen Sie?«, wollte er wissen.
    »Ich will ein Versprechen einlösen, ein Versprechen, das mich am Leben erhält.«
    »Welches?«, fragte Ben. »Ein Verbrechen? Ist das Ihre letzte große Tat?«
    Jawahal warf ihm einen nachsichtigen Blick zu.
    »Der Unterschied zwischen einem Verbrechen und einer großen Tat liegt im Auge des Betrachters, Ben. Mein Versprechen ist kein anderes, als ein neues Zuhause für meine Seele zu finden. Und dieses Zuhause werdet ihr mir verschaffen. Ihr, meine Kinder.«
    Ben biss die Zähne zusammen und spürte das Blut in seinen Schläfen pochen.
    »Sie sind nicht mein Vater«, sagte er ernst. »Und wenn Sie es einmal waren, schäme ich mich dafür.«
    Jawahal lächelte herablassend.
    »Es gibt zwei Dinge im Leben, die du dir nicht aussuchen kannst, Ben. Das eine sind deine Feinde. Das andere ist deine Familie. Manchmal ist der Unterschied zwischen beiden schwer zu erkennen, doch die Zeit lehrt dich, dass deine Karten letztendlich immer noch schlechter hätten sein können. Das Leben, mein Sohn, ist wie die erste Schachpartie. Wenn du endlich begreifst, wie die Figuren ziehen, hast du schon verloren.«
    Plötzlich stürzte sich Ben mit der ganzen Kraft seiner zurückgehaltenen Wut auf Jawahal. Der blieb unbewegt am Ende der Bank sitzen, und als der Junge durch ihn hindurch ins Leere sprang, löste sich die Gestalt in ein Rauchgebilde auf. Ben stürzte zu Boden und spürte, wie er sich an einer verrosteten Schraube, die unter der Bank hervorragte, die Stirn aufschnitt.
    »Eine Sache, die du bald lernen wirst«, sagte Jawahal hinter ihm, »ist, dass du verstehen musst, wie dein Feind denkt, bevor du ihn bekämpfst.«
    Ben wischte sich das Blut ab, das ihm übers Gesicht rann, und drehte sich zu der Stimme um, die aus der Dunkelheit kam. Jawahal saß nun am anderen Ende der Bank. Für einige Sekunden kam es dem Jungen so vor, als hätte er versucht, einen Spiegel zu durchqueren, und sei dabei auf einen raffinierten optischen Trick hereingefallen.
    »Nichts ist so, wie es scheint«, sagte Jawahal. »Das solltest du schon in den Tunnels bemerkt haben. Als ich diesen Bau plante, habe ich mir einige Überraschungen ausgedacht, die nur ich kenne. Magst du Mathematik, Ben? Mathematik ist die Religion für Menschen mit Verstand, deshalb hat sie so wenige Anhänger. Es ist jammerschade, dass weder du noch deine unbedarften Freunde hier rauskommen werdet, denn ihr könntet der Welt so manches Geheimnis verraten, das dieses Bauwerk in sich birgt. Mit etwas Glück würdet ihr den gleichen Spott, den gleichen Neid und die gleiche Verachtung ernten wie sein Erfinder.«
    »Der Hass hat Sie blind gemacht, schon vor langer Zeit.«
    »Der Hass hat mir die Augen geöffnet, weiter nichts«, entgegnete Jawahal. »Und du solltest jetzt besser auch deine Augen offen halten, denn du hältst mich zwar für einen einfachen Mörder, aber du wirst feststellen, dass du eine Möglichkeit hast, dich und deine Freunde zu retten. Etwas, das ich nie hatte.«
    Jawahal stand auf und ging auf Ben zu. Der Junge schluckte und war bereit, loszurennen. Doch Jawahal blieb zwei Meter vor ihm stehen, kreuzte feierlich die Hände vor der Brust und verbeugte sich leicht.
    »Unser Gespräch hat mir gefallen, Ben«, sagte er liebenswürdig. »Mach dich jetzt bereit und komm dann zu mir.«
    Bevor Ben ein Wort sagen oder einen Finger rühren konnte, zerfloss Jawahals Gestalt zu einem Feuerwirbel und flog in atemberaubender Geschwindigkeit durch die Kuppel des Bahnhofs, einen Flammenschweif hinter sich herziehend. Dann verschwand er wie ein brennender Pfeil in den Tunnels und ließ eine Girlande aus glühenden Funken zurück, die in der Dunkelheit erloschen und dem Jungen den Weg zeigten, den sein Schicksal nehmen würde.
    Ben warf einen letzten Blick auf den blutgetränkten Umhang und machte sich dann erneut auf den Weg in die Tunnels. Er wusste, dass diesmal alle Gänge an einem Punkt zusammenlaufen würden, welchen Weg auch immer er nahm.
     
    Die Silhouette des Zugs tauchte aus der Finsternis auf. Ben betrachtete die schier endlose Reihe von Waggons, die von den Flammen

Weitere Kostenlose Bücher