Mittsommerzauber
Flusses, und sowohl im Dorf als auch in der Fabrik gab es genügend Leute, die der Meinung waren, Annas Paddelkünste seien olympiareif. Henner war einer davon, er hatte schon mehrfach davon gesprochen, dass an ihr eine Spitzensportlerin verloren ginge. Anna selbst war realistisch genug, um das Kajakfahren als das zu sehen, was es für sie war: ein verrückter und manchmal ziemlich gefährlicher Zeitvertreib.
»Geht’s dir gut, Anna?«, rief Henner.
»Wenn ich auf dem Wasser bin, immer!«
Trotz der Entfernung konnte sie erkennen, dass Henner nickte, ganz so, als hätte er keine andere Antwort erwartet. Vielleicht stimmte das sogar, er kannte sie immerhin seit ihrer Kindheit und hatte sie schon in ihrem ersten Schlauchkajak herumpaddeln sehen. Von allen Arbeitern in der Fabrik war er am längsten dabei. Er fuhr den Holzlaster, seit sie denken konnte.
Sie erreichte den Parkplatz, auf dem sie ihren Wagen abgestellt hatte, und verstaute das Boot auf dem Dachgepäckträger. Mittlerweile schwitzte sie gewaltig unter dem feuchten Neopren und zog sich daher im Schatten des Wagens rasch um. Eigentlich hätte sie dringend eine Dusche gebraucht, von einem Föhn ganz zu schweigen, aber dafür war keine Zeit. Sie war ohnehin schon spät dran - wieder einmal.
Während der Rückfahrt wurden ihre Blicke immer wieder von dem Prospekt angezogen, den sie auf den Beifahrersitz gelegt hatte. Die bunten Bilder waren eine einzige stumme Aufforderung, alles hinter sich zu lassen, einzutauchen in diese unbekannte, faszinierende Welt, in der sie frei sein würde. Der große Südseekreuzer mit seinen schneeweißen Deckaufbauten und den unzähligen Bullaugen durchpflügte die glitzernde Bläue des Pazifiks, und die Aufschrift Kommen Sie an Bord schien sie, Anna, persönlich anzusprechen. Es war wie eine geheimnisvolle Botschaft. Komm und versuch dein Glück, lass alles hinter dir...
Als sie am Sägewerk vorbeikam, sah sie, dass die Männer bereits angefangen hatten, den Laster abzuladen, mit dem Henner vorhin gekommen war. Der Vorarbeiter gab dem Kranführer Zeichen, und der Ausleger des Lastzuges bewegte sich, als ein weiterer Stamm auf den Stapel neben dem Eingang der Halle herabsank.
Anna hupte kurz, und die Männer hielten mit ihrer Arbeit inne und winkten ihr zu, als sie vorbeifuhr.
Sie spürte einen Anflug von schlechtem Gewissen, als sie die vertrauten Gesichter sah. Natürlich war das Blödsinn, sie tat ja nichts Verbotenes. Sie wollte lediglich ihr eigenes Leben leben. Doch allein die Tatsache, dass niemand außer ihr das bisher wusste, reichte aus, um ihr ein schlechtes Gefühl zu geben.
Anna sagte sich, dass sie überreagierte, und sie zwang sich, ihre Situation objektiv zu betrachten. Das Sägewerk, die Männer, die für ihre Familie arbeiteten, ihre Mutter, ihr Bruder - all das waren Bestandteile ihrer vertrauten Umgebung, und niemand hinderte sie daran, neue Wege zu beschreiten.
Die Sache mit Bertil war eine andere Geschichte, aber auch dafür würde sie eine Lösung finden. Vorausgesetzt, sie konnte sich jemals dazu durchringen, mit ihm darüber zu reden.
*
Sie parkte den Wagen in einer der schmalen Straßen, die sternförmig auf den Hauptplatz führten. Das lichte, von pastellfarbigen Holzhäusern gesäumte Rund des Platzes wirkte anheimelnd wie immer, doch Anna empfand wie so häufig in der letzten Zeit eine gewisse Rastlosigkeit bei seinem Anblick.
Dabei fühlte sie sich keineswegs bedrückt von der dörflichen Enge und der ständig gleichen Umgebung. Sie liebte diesen Ort über alles, nicht nur, weil sie hier aufgewachsen war und die Menschen mochte, die hier lebten, sondern auch, weil die Gegend nicht nur in ihren eigenen Augen, sondern auch nach allen objektiven Maßstäben unvergleichlich war. Nicht umsonst kamen die Leute aus Stockholm hierher aufs Land, um Ferien zu machen. In ganz Schweden gab es kaum einen anderen Ort, wo sich Flüsse, Wiesen, Felshöhen und Wälder zu einer so wilden und zugleich märchenhaft anmutenden Landschaft vereinten.
Anna beeilte sich, endlich zur Arbeit zu kommen. Während des Laufens zog sie ihren Kittel aus der Tasche und schlüpfte hinein.
Silke stand am Eingang ihres Cafés und winkte, als Anna näher kam. Sie hatte ein leeres Tablett vor die Brust gepresst und lachte Anna an, die gute Laune in Person.
»Kaffee ist fertig!« Sie deutete auf einen der runden Bistrotische, die vor dem Café aufgebaut waren, eingerahmt von großen Blumenkübeln und überschattet von hellen
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