Serafina - Das Königreich der Drachen - Wie alles begann ... (German Edition)
Das Probevorspiel
E s ist wohl völlig normal, um nicht zu sagen menschlich, wenn man sich bei einem schwierigen Probevorspiel moralische Unterstützung erhofft. Mein Vater kam dafür allerdings nicht infrage. Hätte er auch nur den leisesten Verdacht gehabt, dass ich mich um eine Anstellung als Gehilfin des Hofkomponisten bemühte, hätte er sofort versucht, mich von meinem Plan abzubringen. Vorspielen ist auch so schon anstrengend genug, da sollte man zuvor nicht auch noch gezwungen sein, heimlich aus dem Zimmerfenster zu klettern. Meine Halbgeschwister fielen als Unterstützung auch aus, sie hätten es Papa sofort verraten, und Freunde, die mir Beistand leisten konnten, hatte ich nicht. Wenn ich also ein freundliches Gesicht unter den Zuhörern sehen wollte, dann blieb mir nichts anderes übrig, als meinen Musiklehrer zu fragen, den Drachen Orma.
Besser er als gar keiner , redete ich mir ein, wobei das noch die Frage war. Er hatte zwar viele Jahre in Menschengestalt verbracht, aber im Innersten war er doch ein Drache geblieben: ein gefühlsarmes, äußerst verstandesbetontes Wesen, dem trotz aller Bemühungen gutes Benehmen nicht leicht fiel und der einfach nicht begreifen wollte, warum es alles andere als hilfreich war, wenn er mich beim Flötenvorspiel lauthals kritisierte. Als der entscheidende Tag gekommen war, wünschte ich mir, ich hätte ihn nie um den Gefallen gebeten.
An jenem milden Herbstnachmittag, auf unserem Weg hinauf zum Schloss, war ich entschlossen, ihn wieder zurückzuschicken. Obwohl man die Gefühle eines Drachen nicht verletzen konnte, hatte ich ein schlechtes Gewissen dabei. Orma hatte sich für unseren Besuch im Palast eigens herausgeputzt und trug ein dunkles Wams und eine feine Hose. Er hatte sogar sein widerspenstiges Haar glatt gestriegelt, auch wenn es nach kurzer Zeit wieder nach allen Richtungen abstand. Ohne jeden Sinn für die Ängste, die mich quälten, schlenderte er zwischen den im Licht golden schimmernden Lindenbäumen neben mir her. Vermutlich löste er gerade in Gedanken eine komplizierte Gleichung.
Als wir in den düsteren Schatten des Torhauses traten, blieb ich stehen und sagte: »Danke, dass du mich bisher zu den schwierigen Vorspielen begleitet hast, Orma. Heute steht in der letzten Runde nur Prinzessin Glisseldas Probestunde auf dem Programm. Das ist für dich ziemlich uninteressant. Bestimmt hast du in letzter Zeit deine Arbeit im Konservatorium vernachlässigt, ich will dich also nicht länger aufhalten.«
»Du bist eine von drei Bewerbern, die in die Schlussrunde gekommen sind«, sagte er und schob die Brille hoch, die ihm auf seiner Hakennase heruntergerutscht war. »Du bist die unerfahrenste Teilnehmerin unter den insgesamt siebenundzwanzig Kandidaten und überdies weiblichen Geschlechts. Ich habe deine Chancen anfangs auf etwa eins zu fünfzehnhundert geschätzt. Der Lautenmeister und der Troubadour sind noch im Rennen, allerdings –«
»Komm zur Sache, Orma«, sagte ich und warf einen nervösen Blick über die Schulter zu den Torwachen. Sie beobachteten uns unter ihren Helmen heraus mit mäßigem Interesse. Anders als die meisten Drachen war Orma von der Pflicht, eine Glocke um den Hals zu tragen, befreit; er sah aus wie ein ganz normaler groß gewachsener, schlaksiger Gelehrter. Dennoch verließ mich nie die Angst, dass die Waffenmänner ihre Schwerter sofort einsetzen würden, wenn sie die Wahrheit herausfänden.
Orma sagte laut: »Du hast eine zwölfprozentige Chance, die Gehilfin von Meister Viridius zu werden.«
Meine Schultern sackten nach unten. »Zwölf Prozent? Na vielen Dank.«
»Gern geschehen.«
Seine völlige Unfähigkeit meinen Unterton zu deuten, reizte mich. »Und du willst trotzdem mitkommen?«
»Selbstverständlich.« Er kratzte sich den Bart. »Bis zu diesem Zeitpunkt standen deine Chancen stets sehr viel schlechter.«
Wir setzten unseren Weg fort. Das Lächeln, das ich den Torhauswachen schenkte, war nur aufgesetzt. Aber ich trug mein bestes Gewand, das dunkelblaue Merinowollkleid, und Orma schaffte es, zumindest für kurze Zeit seinen Mund zu halten. Wir wirkten offensichtlich respektabel genug, denn die Wachen stellten keine Fragen, ließen Orma aber nicht aus den Augen. Vielleicht argwöhnten sie, dass er mich belästigte – und damit lagen sie gar nicht so falsch.
Ich war die Letzte, die in Meister Viridius’ Studierzimmer eintraf. Der betagte Komponist saß nicht an seinem Schreibtisch, sondern lag auf einem Gichtsofa und
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