Mittsommerzauber
Harald«, versprach Anna ihm. »Ich helfe dir.«
Sie wartete, bis die Türen des Krankenwagens zugefallen waren, dann wandte sie sich zu Robert um, der schweigend hinter ihr gewartet hatte. »Sag mal, wieso bist du eigentlich noch hier? Ich meine, musst du nicht zurück nach Kanada?«
»Was soll ich da?«, fragte er.
»Nun...« Sie druckste ein wenig herum. »Es liegt doch nahe, oder nicht?«
»Wie kommst du darauf?«
Sie zögerte, doch dann holte sie entschlossen Luft. »Wegen deiner Frau.«
»Meine von mir in Scheidung lebende Frau«, korrigierte er.
Sie schaute ihn mit großen Augen an, woraufhin er nachlässig die Schultern hob. »Hättest du mich einfach mal ausreden lassen anstatt gleich wegzurennen, wüsstest du es schon. In ein paar Tagen wird unsere Scheidung durch sein. Wir sind bereits seit fünf Jahren getrennt.«
»Und was bedeutet das konkret?«, fragte Anna mit gespieltem Gleichmut.
»Das heißt, dass es nichts gibt, was mich daran hindern könnte, Toronto zu verlassen.« Er kniff sie sacht in die Wange. »Und hier ein neues Leben anzufangen.«
Sie reckte ihr Kinn. »Mit mir?«
»Nein, mit einer kleinen Waldfee, die ich gestern hier in der Gegend aus einem Bergsee gefischt habe.«
Sie kicherte und boxte ihn spielerisch in den Solarplexus. Dann nahm er sie in die Arme, und sein Kuss ließ sie die Welt um sie herum vergessen, bis es nichts mehr gab außer dem Flüstern und dem Duft des Waldes.
*
Silvia bezwang ihre Unruhe und eilte ihrer Tochter entgegen, als diese, gefolgt von Robert, das Haus betrat. Die ganze Zeit über hatte sie gewusst, dass etwas passiert war. Zwischen ihr und ihren Kindern gab es einen unsichtbaren Faden, und er existierte seit dem Moment ihrer Geburt, ganz so, als wäre er an die Stelle der Nabelschnur getreten, die sie vorher mit ihnen verbunden hatte.
Vor einer Weile hatte sie gespürt, dass der Faden zwischen ihr und ihrem Sohn zerrissen war. Es hatte nur Momente gedauert, doch es waren die schrecklichsten Augenblicke ihres Lebens gewesen. Das Entsetzen, das sie wenig
später beim Anblick der leeren Tablettenröhrchen in seinem Zimmer übermannt hatte, hallte immer noch in ihr nach.
Anna fing ohne Umschweife an zu berichten, was geschehen war.
Mit zur Seite geneigtem Kopf hörte Silvia ihrer Tochter zu und kämpfte darum, nicht die Beherrschung zu verlieren. Vergeblich. Als Anna geendet hatte, brach Silvia in Tränen aus. Weinend ließ sie zu, dass Anna sie umarmte und wiegte, als sei sie die Mutter und Silvia ihr Kind.
»Ich habe zu viel von ihm erwartet!«, schluchzte sie. »Es ist meine Schuld!«
»Sag das nicht, denn es ist nicht wahr!«, widersprach Anna.
»Er wäre fast gestorben!«
»Er wird es überstehen! Er wird wieder völlig gesund werden! Alles wird gut, Mama!«
Silvia fing sich wieder und nahm das Taschentuch entgegen, das Robert ihr reichte. Entschlossen putzte sie sich die Nase. Sie hatte entschieden, ihre Sache diesmal besser zu machen, und sie wollte damit anfangen, solange noch Zeit dafür war. Alles zog sie zu Harald, es hielt sie kaum noch hier zu Hause. Sie wollte zum Krankenhaus fahren, um an seiner Seite zu sein. Sie wollte seine Hand nehmen und sein Gesicht sehen, und sie wollte ihm versprechen, immer für ihn da zu sein.
Doch vorher musste sie eine andere Sache in Ordnung bringen.
»Ich hoffe, Sie betrachten es nicht als Bestechung, wenn ich Ihnen den Posten abermals anbiete«, sagte sie mit belegter Stimme.
»Als Bestechung wofür?«, wollte Robert wissen.
»Dafür, dass Sie meinem Sohn das Leben gerettet haben.«
»Ihre Gründe sind für mich zweitrangig. Nur das Ergebnis zählt.«
»Also wollen Sie den Job noch?«
»Ich will ihn.« Er streckte den Arm aus und zog Anna fest an seine Seite. »Und noch einiges mehr.«
»Ich bleibe hier, Mama«, fügte Anna hinzu, eine Erklärung, die Silvia nicht mehr brauchte. Sie hatte es schon die ganze Zeit gewusst. Dieser Faden war jetzt lose, als würde er im Wind schwingen, ungestüm und frei. Ihre Tochter war erwachsen geworden.
*
Robert fand, dass das Leben gar nicht so übel war als zweiter Mann. Zumindest dann, wenn sie auf dem Fluss unterwegs waren. Der erste Mann war in diesem Fall Anna selbst, oder besser: die erste Frau. Sie saß vorn und bewegte unermüdlich ihr Paddel, während er sich die meiste Zeit nur tatenlos chauffieren ließ. Die Tatsache, dass sie ihn dabei kaum im Auge behalten konnte, half ihm dabei, sich nicht allzu blöd vorzukommen. Er zog
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