Mittsommerzauber
den Ort zu erreichen, wo sie den schönsten Tag ihres bisherigen Lebens verbracht hatte.
Sie stellte den Wagen in der Nähe des Gebirgsbachs ab, zog die Schuhe aus und watete ans andere Ufer.
An der Längswand der Hütte stand eine Bank, auf die sie sich setzte. Den Rücken gegen die warmen Holzbohlen gedrückt, genoss sie den Ausblick über die weiten Berghänge. Nach einer Weile schloss sie die Augen und begann, in ihren Erinnerungen zu schwelgen. Hier hatten sie sich geliebt, hatten einander in den Armen gehalten und geredet, bis der Morgen kam. Es war, als sei seither keinerlei Zeit verstrichen, so klar waren die Bilder in ihrem Bewusstsein. Vergangenheit und Gegenwart vereinten sich zu einem machtvollen Augenblick tiefen Empfindens, und aus ihrem Inneren stieg eine unabänderliche Gewissheit auf. Sie wusste plötzlich, dass es nur einen richtigen Weg für sie gab, und zum ersten Mal in ihrem Leben sah sie ihn in aller Klarheit vor sich.
Sie stand auf, glücklich darüber, dass sie hierher gekommen war und an diesem Ort eine Einsicht gewonnen hatte, die ihr jene Freiheit verhieß, nach der sie sich so gesehnt hatte.
Alles war mit einem Mal ganz einfach! Sie gehörte in dieses Land wie die Bäume und die Flüsse. Sie war nicht geboren für das unstete Leben eines Vagabunden. Sie war da zu Hause, wo sie aufgewachsen war.
Dann irrten ihre Gedanken wieder ab, und sie fragte sich, ob sie jemals einen Weg finden würde, Robert zu verzeihen. Er war verschwunden, und sie würde ihn nie Wiedersehen, doch sie wünschte sich so sehr, eine liebevolle Erinnerung an ihre kurze gemeinsame Zeit mit in die Zukunft nehmen zu können. Eines Tages, erkannte sie, wäre sie vielleicht so weit. Doch im Moment tat es einfach noch viel zu weh.
Nach einer Weile stand sie auf, um nach Hause zu fahren.
*
Als sie hinter einer Biegung den großen Holztransporter stehen sah, bremste sie scharf. Der Laster blockierte die gesamte Straße, und daran würde sich vermutlich auch für die nächste Stunde nichts ändern, weil die Männer unter Henners Aufsicht damit beschäftigt waren, Stämme zu fällen und aufzuladen. Hier oben mussten sie keine Rücksicht auf den Verkehr nehmen, denn außer Forstarbeitern und den Holzfällern der Firma Blomquist verirrte sich kaum jemand in diese Gegend. Anna richtete sich auf eine längere Pause ein und stieg aus, um die Männer zu begrüßen.
»Hej, Henner«, rief sie.
Henner hob die Hand und lachte sie an, und auch die anderen Männer winkten grüßend in ihre Richtung.
Anna wandte den Blick zur Seite, und da sah sie ihn. Im ersten Moment war sie sicher, dass sie sich täuschte, doch er war es tatsächlich. Er stand drüben mit einem der Männer zusammen und redete. Jetzt sah sie auch seinen Wagen. Er war ein Stück abseits hinter dem Laster geparkt. Anscheinend war ihm die Straße ebenso versperrt worden wie ihr.
Anna konnte es kaum fassen. Robert war hier! Er war zurückgekommen! Oder war er gar nicht erst fortgegangen? Konnte es sein, dass er ihr die Wahrheit gesagt hatte? Dass er tatsächlich nicht vorhatte, nach Kanada zurückzukehren?
Sie würde es darauf ankommen lassen. Was auch geschah, ob er für immer hier bleiben würde oder nur für eine Weile - sie konnte nicht aufhören, ihn zu lieben.
Ihr Herz schlug einen Trommelwirbel, und nur einen Sekundenbruchteil später gab sie dem Verlangen nach, zu ihm zu laufen. Sie blieb mit ihrem Schuh an einer Wurzel hängen und strauchelte, doch gleich darauf fing sie sich wieder und rannte weiter.
»Robert!«, schrie sie.
Er schaute auf und sah sie. »Anna!«, brüllte er, mindestens in der doppelten Lautstärke wie sie. Er setzte sich ebenfalls in Bewegung, und einen Lidschlag später hatte sie ihn erreicht.
Er empfing sie mit beiden Armen und küsste sie wie ein Verdurstender, und Anna erwiderte seine ungestümen Zärtlichkeiten mit derselben Leidenschaft. Von Euphorie erfüllt, klammerte sie sich an ihn und konnte nur noch an eines denken: Er gehörte zu ihr. Er war hier, bei ihr, und er hielt sie in seinen Armen.
Unmittelbar neben ihnen röhrte die große Baumsäge auf. Zwei der Männer hatten begonnen, den nächsten Stamm zu fällen.
Robert führte Anna ein Stück weg, dann drehte er sie in seinen Armen herum, um sie erneut zu küssen.
Als er sie an sich zog, sah sie über seine Schulter ihren Bruder durch den Wald torkeln.
Er sah aus wie ein Gespenst. Bleich, mit wirren Haaren und trüben Augen kam er auf sie zugestolpert und
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