Mittsommerzauber
Sekunden gelang es ihr schließlich, ihre Umgebung besser zu erkennen.
Der Stall war durch grobe Holzbalken in mehrere Boxen unterteilt, und an den Wänden waren zahlreiche Gerätschaften und Jutesäcke befestigt. Von irgendwoher war ein Geräusch zu hören, das wie ein unterdrücktes Stöhnen klang. Eva wandte sich nach links, in die Richtung, aus der es gekommen war. »Herr Axelsson?«, rief sie alarmiert. »Sind Sie das?«
Das Stöhnen war erneut zu hören, diesmal lauter. »Ja!«, kam es dann. »Ich bin hier drüben!«
Eva ging ein paar Schritte nach links, und jetzt endlich sah sie ihn. Ein alter Mann stand in einer der Boxen, mit dem Rücken an die Wand gelehnt und beide Handflächen fest an die rissigen Balken hinter sich gepresst. Ein Hund drängte sich an die Beine des Mannes. Er hechelte mit weit heraushängender Zunge und wirkte unruhig, doch er bewegte sich nicht von der Stelle. Beim Näherkommen sah Eva, dass es ein Hirtenhund war, mit schwarz-weiß gemustertem Fell und spitzen Ohren.
Der Mann hatte sie erblickt und stöhnte jetzt lauter. »Hier bin ich!«
Eva eilte auf ihn zu. »Meine Güte, Herr Axelsson! Haben Sie sich verletzt?«
»Mein Rücken.«
»Sind Sie gestürzt?«
»Nein«, stieß er hervor. »Ist ganz plötzlich passiert. Beim Bücken. Kann mich nicht bewegen. Stehe seit einer Stunde hier, und es geht nicht vor und nicht zurück. Kann mich nicht mal setzen.«
Gustav Axelsson mochte Ende sechzig sein. Er war recht groß und von stämmiger Statur, doch durch die Schmerzen wirkte er weit älter. Mit seiner verkrümmten Gestalt und dem gesenkten Kopf bot er ein Bild der Hilflosigkeit. Sein dunkelblauer Arbeitsanzug wies nicht nur die üblichen Spuren landwirtschaftlicher Arbeit auf, sondern war nass geschwitzt. Auch das von der Sonne gefurchte Gesicht des Mannes war mit einer dicken Schweißschicht bedeckt. Wenn er Luft holte, bebte sein Brustkorb vor Anstrengung, und jedes Ausatmen war von einem Röcheln begleitet. Es gab keinen Zweifel, dass er unter unerträglichen Schmerzen litt.
»Vielleicht legen Sie sich besser hin«, schlug Eva vor.
»Geht nicht«, sagte Gustav kaum hörbar.
Eva zog ihr Handy hervor und tippte die Nummer der Ambulanz ein. »Gleich kommt Hilfe«, sagte sie zu Gustav. Als sich am anderen Ende der Leitung eine Frauenstimme meldete, nannte Eva hastig ihren Namen und schilderte die Sachlage.
»Nein, er kann sich nicht rühren«, antwortete sie auf die Frage der Frau. »Er braucht sofort einen Arzt.«
Spontan griff sie nach Gustavs Hand und drückte sie. »Ja, selbstverständlich bleibe ich bei ihm, bis jemand herkommt!«
Sie trennte die Verbindung. »In zehn Minuten ist der
Krankenwagen da«, sagte sie zu Gustav. »Kann ich in der Zwischenzeit irgendetwas für Sie tun? Soll ich Ihnen etwas holen?«
Er schüttelte den Kopf, dabei hielt er die Augen geschlossen, und der Mund war zu einer Linie zusammengepresst. Trotz des im Stall herrschenden Dämmerlichts konnte Eva erkennen, dass sein Gesicht grau wie Asche war. »Ich kann nicht ins Krankenhaus.« Wegen der Schmerzen klang seine Stimme so undeutlich, dass Eva ihn kaum verstehen konnte. »Kann hier nicht weg. Die Schafe... Mein Hund...«
»Nur nicht aufregen.« Eva zwang sich dazu, ihrer Stimme einen aufmunternden Ton zu geben. »Es wird sich alles finden.« Eilig überlegte sie, womit sie ihn ablenken konnte. Ihr fiel auf Anhieb etwas ein, das möglicherweise zugleich die Lösung seines Problems bedeutete.
»Haben Sie Kinder? Soll ich jemanden anrufen? Jemand, der herkommt und sich um alles kümmert, wenn Sie im Krankenhaus sind?«
»Meine Tochter«, sagte Gustav ebenso mühsam wie widerstrebend. »Aber sie kann nicht kommen. Sie ist in Stockholm. Ich will sie nicht beunruhigen.« Seine letzten Worte gingen in einem erneuten Stöhnen unter, und sein Körper zitterte heftiger. Eva versuchte, die aufsteigende Panik zu bekämpfen, doch sie merkte, dass sie allmählich die Beherrschung verlor. Tränen des Mitleids sammelten sich in ihren Augen, und sie schluckte heftig, um nicht weinen zu müssen. Bisher hatte sie sich immer für ziemlich stark gehalten, doch im Augenblick war sie weit davon entfernt, Herrin der Lage zu sein. »Gleich!« Ihre Stimme klang beschwörend, doch der Unterton von Verzweiflung war nicht zu überhören. »Gleich kommt der Arzt! Halten Sie durch! Alles wird gut!« Sie holte tief
Luft, dann fuhr sie mit größerer Entschiedenheit fort: »Und sagen Sie mir bitte die Telefonnummer Ihrer
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