Modesty Blaise 04: Ein Gorilla für die Lady
sie hier zur Rechenschaft. Deshalb dachte ich mir, es wäre besser, wenn ich sie selbst erledige. Dann können sie es nicht noch einmal tun.»
Ein müdes, verzerrtes Lächeln. «Sie müssen ein sehr ungewöhnlicher Mensch sein. Ich bin froh. Aber bringt Sie das nicht in Schwierigkeiten?»
«Nein. Jedenfalls nicht vom Gesetz her. Der Mann auf der Yacht wird nichts verlauten lassen. Hören Sie zu – wir sind unterwegs zum Festland südlich von Panama City. Vor dem Morgengrauen werden wir es nicht erreichen. Ich muß mit Ihnen reden, ehe wir dort ankommen, darum sagen Sie mir bitte, wenn Sie dazu bereit sind, ja?»
«Ich bin schon jetzt dazu bereit.»
«Tapferes Mädchen. Möchten Sie sich wieder hinlegen?»
«So ist’s besser – wenn ich Ihnen nicht zu schwer bin.»
Er konnte spüren, welche Gefühle schmerzlichen Verlustes und innerer Verlassenheit sie beherrschten und erkannte, daß sie selbst in den Armen eines Fremden einen gewissen Trost fand. «Sie sind nicht schwer», sagte er. «Und gleich zur Sache: Kennen Sie einen Mann namens Gabriel?»
Stirnrunzelnd schüttelte sie den Kopf. «Sollte ich?»
«Nun, er ist derjenige, der an Deck der Yacht stand und die beiden Ganoven ausschickte, um sich Ihrer zu bemächtigen.»
«Und um Judy zu ermorden.» Sie biß sich heftig auf die Lippe und kämpfte gegen eine neue Aufwallung von Schmerz. «Tut mir leid. Es hat mich einen Moment lang wieder gepackt. Nein, ich kenne keinen Gabriel. Welches Interesse sollte er haben, sich meiner zu bemächtigen?»
«Das sollte meine nächste Frage werden. Gabriel ist ein Typ, der nur große Dinger dreht, und ein schlechter Mensch dazu. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er sich auch mit Entführungen abgibt, aber … Sie sind wohl keine reiche Erbin oder etwas Ähnliches?»
«Ich habe 800 Dollar auf der Bank und sonst nichts zu erwarten.»
«Arbeiten Sie für ein Ministerium oder dergleichen?»
«Nein. Was meinen Sie mit ‹dergleichen›?»
«Geheimdienst.»
Wenn ihr danach zumute gewesen wäre, hätte sie gelacht. «Glauben Sie denn, die stellen Blinde ein?»
«Ich habe schon merkwürdigere Dinge erlebt. Aber lassen wir das. Eine große Firma vielleicht? Fabrikationsgeheimnisse?»
«Wie kommen Sie auf den Gedanken, daß ich überhaupt arbeiten kann?» fragte sie neugierig.
«Sie würden schon eine Möglichkeit finden. Sie haben das Gesicht danach.» Seine Stimme klang beiläufig, aber voll Überzeugung, und trotz ihres nagenden Schmerzes empfand sie über das so geäußerte Lob rasch aufzuckende Freude. Noch ehe sie etwas sagen konnte, fuhr er fort: «Hören Sie – ich glaube, es ist besser, wenn Sie mir alles von sich erzählen. Dann kann ich mir das Wesentliche selbst heraussuchen und sehen, ob es da etwas gibt, das Gabriel interessieren könnte.»
«Gut.» Sie begann zu sprechen, langsam und manchmal mit ausgedehnten Pausen. Er drängte sie nicht.
Sie hieß Dinah Pilgrim. Ihre Eltern waren tot. Sie kam aus Toronto und war nach einem schweren Anfall von Gehirnhautentzündung mit elf Jahren erblindet.
Sie war jetzt 22 Jahre alt und wußte, daß sie nie wieder sehen würde. Ihre zwei Jahre ältere Schwester Judy hatte sich um sie gekümmert. Sie, Dinah, hatte sich deswegen Sorgen gemacht, denn Judy ging nur selten mit einem Freund aus, und sie fürchtete, schuld daran zu sein, wenn die Schwester sich ihre Heiratschancen verdarb.
«Ich versuchte zu helfen, indem ich mir auch einen Freund zulegte», berichtete Dinah. «Ich wollte das eigentlich gar nicht. Es ist ein komisches Gefühl.» Willie spürte ihr Achselzucken. «So, als ginge man ständig zu einer Verabredung mit einem Unbekannten. Es gab nur zwei. Ich habe nie gewußt, wie sie aussahen. Ich weiß ja nicht einmal, wie ich aussehe. Ich glaube, für den ersten war ich einfach mal eine Abwechslung. Er hielt sich nicht mehr lange bei uns auf, nachdem er mich erst einmal gehabt hatte. Judy hat sich so aufgeregt. Das war das einzige Mal, bei dem ich sie haßerfüllt reden hörte.
Den zweiten mochte ich gern, aber er empfand nur Mitleid für mich. Er war schon sehr nett – aber zu nett, um mich im Stich zu lassen. Ich mußte den Bruch selbst herbeiführen. Es wäre ja doch nicht gutgegangen.
Oh, Verzeihung – das ist sicher nicht das, was Sie eigentlich hören möchten, nicht wahr?»
Willie hatte gespürt, wie sie sich nach und nach entspannte, und wußte, daß das Erzählen ihrer Lebensgeschichte eine heilende Wirkung auf sie ausübte. «Ich möchte alles
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