Mörder im Zug
Möglicherweise hatte Sokolowski den Mörder deshalb nicht zu Gesicht bekommen, weil dieser ihm ausgewichen war, etwa indem er zwischen Unter- und Oberdeck hin und her gewechselt oder sich im Toilettenraum versteckt hatte. Aber der große Unbekannte, das schien ihnen sehr weit hergeholt.
»Also schauen wir mal, wer nach Schwaan noch im Zug war«, sagte Barbara schließlich. »Wagen eins, Oberdeck: der Geschädigte. Zwischendeck: ein bärtiger Mann um die Vierzig mit langem, ungepflegtem Haar. Er saß dem Opfer am nächsten, also möchte ich spätestens heute Abend wissen, wie er heißt.«
»Wenn das machbar ist«, sagte Uplegger.
»Wat mutt, dat mutt. Sie können ruhig losfahren.« Uplegger startete den Motor, Barbara blätterte weiter in den Notizen. »Wagen zwei, Oberdeck: die angeblichen Motorradrocker. Stiegen in Schwaan zu, sind bis Rostock mitgefahren. Im Unterdeck saßen unser Freund Giehlow und der Mann im blauen Blazer. Im Zwischendeck vor dem Übergang zu Wagen drei hat Sokolowski eine junge Frau gesehen, die in Huckstorf an Bord kam. Junge Frau, das müssen wir wahrscheinlich relativ sehen. An ihre Kleidung kann sich Sokolowski nicht erinnern. Im Oberdeck von Wagen drei: noch eine junge Frau. Elegant, sagt er. Anthrazitfarbenes Kostüm – Uplegger, Anthrazit schreibt man mit th –, beiger Mantel, ähnlich einem Trenchcoat, bis zu den Knien reichende schwarze Stiefel. Die hat er sich genau angeguckt, der alte Schwerenöter! Wagen drei unten: die verhuschte Person. Und noch eine jüngere Frau. Nicht jung, aber jünger, also vermutlich eher älter. Sie trug eine Art Uniform. Eine Art, mein Gott! Trug sie nun Uniform oder nicht?« Barbara schüttelte den Kopf. Von einem Wachmann hatte sie eigentlich erwartet, dass er Menschen so beschreiben konnte wie ein Polizist.
Sie verließen den Konrad-Adenauer-Platz. Uplegger bog in die Rosa-Luxemburg-Straße ein und wiederholte im Stillen: Anthrazit schreibt man mit th! Jawohl, Hauptkommissarin Barbara Besserwisser! Oder mit Doppelnamen: KHK’in Babara Besserwisser-Dampframme!
»Ah, ich habe Cindy Blond vergessen«, sagte Barbara.
»Cindy Blond habe ich nicht geschrieben!«
»Nein, nein, schon gut! Wo hielt sie sich auf? Ja, hier: Wagen drei, Zwischendeck zum mittleren Waggon. Sie war gekleidet, wie die jungen Leute heute eben so rumlaufen. Das haben Sie geschrieben! Außerdem haben Sie ein Strichmännchen an den Galgen gehängt. Ein korpulentes Strichmännchen …«
»Hm!« Uplegger brachte den Wagen vor einer roten Ampel am Leibnizplatz zum Stehen.
»Alles in allem wissen wir noch nicht viel.« Barbara stopfte die Niederschrift in die Handtasche und schaute ihren Kollegen von der Seite an. Trotz seiner 37 Jahre sah er im Profil wie ein Junge aus.
»Übrigens beschäftigt mich noch eine Person, die in Schwaan ausstieg und daher als Täterin eher nicht in Frage kommt«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Wissen Sie, wen ich meine?«
»Hm?«
»Die Frau im Flickenmantel und mit Barett, von der Sokolowski meinte, sie sei Künstlerin.«
»Hm.«
»Sie hatten Ihre Gefühle nicht unter Kontrolle, Jonas. Als Sokolowski diese Dame erwähnte, haben Sie ein Geräusch von sich gegeben.«
»Ich? Ein Geräusch?«
»Eine Art Stöhnen. Kennen Sie diese Frau?«
Uplegger fuhr an. »Ich vermute, es ist Penelope Pastor.«
»Wer?«
»Penelope Pastor. Und Kennen wäre zuviel gesagt. Im letzten Sommer war ich mit Marvin in Schwaan. Wir sind mit dem Rad gefahren; der Radweg beginnt beim Puschkinplatz, also praktisch vor unserer Haustür. Ich wollte mit ihm in der Kunstmühle die Bilder der Künstlerkolonie anschauen, die sich Ende des … ja, wahrhaftig, des 19. Jahrhunderts gebildet hatte. So eine Art mecklenburgisches Worpswede oder Barbizon, wissen Sie?«
»Also Landschaften«, sagte Barbara, die natürlich wusste. Aber Uplegger hielt sie für eine Barbarin.
»Wunderschöne Sachen. Sie haben so etwas … Harmonisches und Beruhigendes.«
»Also nicht gerade den Kick, den ein Dreizehnjähriger sucht.«
»Nein«, gab Uplegger zu. »Ich meine, Bilder treten zwar in Interaktion mit unserer Seele, aber nach Marvins Verständnis waren sie überhaupt nicht interaktiv. Kurzum, er hat sich gelangweilt.«
»Ah, ja.«
»Aber da war dann diese Frau. Penelope Pastor. Die sprach mich an: Sie sei entzückt, dass ich als Vater mein Kind an die bildenden Künste heranführen würde, was in der Schule kaum noch geschähe … Dabei gibt es an Marvins Gymnasium eine ziemlich gute
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