Moerderische Fracht
Colmar starrte mich ungläubig an. Offenbar konnte er es nicht fassen, dass ich zur Papst-Audienz mit Telefon erschienen war. Ich zog das Handy aus der Hosentasche und schaute auf das Display. Es war eine SMS von Anna: 12 Uhr bei dir. Dringend.
Ich sah auf meine Uhr. Es war erst kurz nach zehn, und eigentlich hatte ich in meiner Mittagspause etwas anderes vorgehabt, doch ich kannte Anna. Sie war nicht der Typ, der »dringend« schrieb, wenn es nicht dringend war. Colmar guckte immer noch giftig. Er schien auf eine Entschuldigung oder Erklärung zu warten, eben auf eine der üblichen Demutsbezeugungen, und plötzlich hatte ich es satt.
»Wars das?«, fragte ich und stand auf.
Colmar war jetzt sehr blass, schluckte aber seine Wut hinunter.
»Für heute!«, sagte er.
Ich ging hinaus und machte leise die Tür hinter mir zu.
Die nächste Stunde verbrachte ich mit einer Internet-Recherche und dem vergeblichen Versuch, Max Althaus ans Telefon zu bekommen, um mich bei ihm zu bedanken. Ich war in gehobener Stimmung. Um Viertel vor zwölf fuhr ich in meine Wohnung. Anna stand auf dem oberen Treppenabsatz und wartete. Sie war bleich und angespannt und hielt mit beiden Händen eine zusammengerollte Zeitschrift.
»Hallo«, sagte ich aufgeräumt, »was gibts denn so dringend?«
Anna schüttelte den Kopf und deutete mit der Zeitungsrolle auf die Wohnungstür.
»Rein da!«, sagte sie.
Ich schloss die Tür auf, und wir gingen in die Küche. Anna hockte sich rittlings auf einen der Stühle.
»Soll ich Kaffee machen?«
»Nein«, sagte sie, »du sollst dich hinsetzen und mir zuhören!«
»Komm, jetzt machs nicht so spannend.«
»Verdammte Scheiße«, sagte sie, und in ihrer Stimme war ein Ton, der mir unmittelbar Angst machte. »Du setzt dich jetzt da hin!«
Also setzte ich mich hin, während Anna versuchte, ihre Stimme unter Kontrolle zu bringen.
»Ich war heute Morgen bei diesem Zahnarzt. Du erinnerst dich? Vor drei Wochen hast du mir seine Adresse gegeben.«
Ich nickte.
»Du kennst das Wartezimmer?«
»Natürlich.«
»Ich war so eingeschüchtert von der Pracht, dass ich mich kaum getraut habe, mich hinzusetzen. Die verchromten Möbel und Glastische, der Teppichboden, die Bilder an der Wand und erst der Springbrunnen! Große Güte. Alles hypermodern. Wie in einer Kunstgalerie.«
»Ja«, sagte ich ungeduldig, »der Mann hat Geld. Und weiter?«
»In dem ganzen Schickimicki-Laden gabs nicht eine einzige vernünftige Zeitung. Nur dieses Zeug.«
Sie reichte mir das zusammengerollte Hochglanzmagazin rüber, das sie mitgebracht hatte. Es war ein Exemplar von Modern Art. »Seite fünf«, sagte Anna.
Ich schlug die Zeitschrift auf und erstarrte. Zu sehen war das Porträt einer schönen jungen Frau mit Lippen wie Angelina Jolie. Darunter folgender Artikel:
Gedenkausstellung für Jaqueline van t’Hoff
In Antwerpen ist für den Herbst eine Ausstellung mit Bildern der unter grausamen Umständen in Mombasa ums Leben gekommenen flämischen Künstlerin geplant. Zu ihren Lebzeiten relativ unbekannt, galt die avantgardistische Malerin mit ihrer gewagten Verknüpfung von Kubismus und Surrealismus in Insider-Kreisen als eines der kommenden Talente der modernen europäischen Kunstszene, Jaqueline van t’Hoff war im März in einem Hotel der kenianischen Metropole mit durchgeschnittener Kehle aufgefunden worden. Das Indian Ocean Resort gilt als das Hotel mit den höchsten Sicherheitsstandards in Mombasa, dennoch konnten die näheren Umstände des brutalen Mordes bis heute nicht geklärt werden.
Anna weinte, ihre Stimme war ein heiseres Krächzen.
»Ich will von dir hören, dass es nicht das ist, was ich denke.«
»Das ist es auch nicht. Weil es einfach unmöglich ist. Wenn du ihn gesehen hättest, wüsstest du das!«
Anna führte ihren rechten Daumen zum Mund und betrachtete ihn sehnsüchtig. Vor zwei Jahren hatte sie sich das Nägelkauen abgewöhnt. Als sie sah, dass ich sie beobachtete, steckte sie die Hand in die Tasche.
»Du rufst da jetzt an!«, sagte sie.
»Was für ein Quatsch!«
Anna sprang so schnell auf, dass der Küchenstuhl nach vorne kippte und ich einen Augenblick lang dachte, sie wolle auf mich losgehen.
»Okay, was immer dich glücklich macht!«
Ich suchte die Nummer der Klinik in Antwerpen heraus, wählte sie und stellte auf »mithören«.
»Centre neurologique et de réadaptation fonctionnelle, bonjour!«, sagte eine perlende Frauenstimme, welche die komplizierte Wortfolge derart schnell
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