Möwennest-Reihe Gesamtband (German Edition)
schäumenden Wasser ragen.
Wenn das mal gut geht! Wir sind zu spät! Viel zu spät!
Er drehte das Gas mit den Fingern durch und umklammerte die Pinne dabei, sodass es schmerzte. Vor ihm verschwanden die Trümmer unter der Wasseroberfläche. Die nächste große Woge rollte heran. Es waren vielleicht noch zehn Meter, aber das laute Krachen verriet, dass sich der Scheitelpunkt der Welle bereits an den Hindernissen im Wasser brach.
Bitte! Noch nicht!
Der Motor röhrte. Die Möwen um sie herum flatterten kreischend davon, hunderte Tiere stoben in den Nachthimmel. Das Boot begann sich steuerbordseitig zu heben. Die Welle hatte sie erreicht.
Jetzt gibt es wirklich kein Zurück mehr . Verflixt und zugenäht!
Harry hielt auf die sich drastisch verkleinernde Lücke zwischen den Pfeilern zu.
Noch fünf Meter.
Das Boot hob sich weiter.
Drei Meter.
Die Lücke war nur noch ein schmaler Spalt.
Zwei Meter.
Sie waren zu nah am linken Pfeiler und lagen bereits zu hoch im Wasser für die ersten Querverstrebungen.
Harry schrie: „NEIN!“ und beugte sich reflexartig vornüber.
Ein Meter.
Der sich brechende Wellenkamm schleuderte gegen das Heck des Bootes. Harry kniff die Augen zu.
Es ist aus!
Das Boot geriet völlig außer Kontrolle. Harry krallte sich an den Motor, wurde hin- und hergerissen. Irgendetwas kratzte über seinen Rücken und schlitzte die Jacke auf. Er hatte das Gefühl, in einer Waschmaschine im Schleudergang zu stecken. Aus seinen Armen wich langsam die Kraft. Er weigerte sich jedoch, einfach loszulassen, selbst wenn es eigentlich völlig sinnlos war. Ein unnötiges Warten. Es fehlte nur noch der finale Schlag, der sie gegen einen der Pfeiler warf und zerquetschte. Jeden Atemzug rechnete Harry damit.
Dann bemerkte er, wie er rapide nach oben gerissen wurde.
Oh Gott! Das ist das Ende .
***
Die Einsatzstelle der Küstenwache in Outdorp war mit Beginn des Sturmes in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt worden. Es war ein Samstag und die meisten Einsatzkräfte befanden sich im Wochenende. Die restliche Mannschaft arbeitete am Limit, um die immer wieder eingehenden Anfragen besorgter Anwohner oder Schiffskapitäne auf See zu beantworten.
Daniel Heemstedde arbeitete mittlerweile 12 Stunden. Der 47-jährige hatte eine Doppelschicht aufs Auge gedrückt bekommen. Zwar ließ ihm die viele Arbeit wenig Zeit, Müdigkeit und zunehmende Gereiztheit machten sich dennoch langsam bemerkbar.
Die blinkende LED auf dem Notfalltelefon kündigte einen weiteren Anruf an. Ein eindringliches Klingeln unterstrich das in der darauffolgenden Sekunde.
Schon wieder, keine zwei Minuten seit der letzten Anfrage .
Heemstedde schnaubte, nahm das schnurlose Telefon in die Hand und meldete sich.
„ Kustwacht Zeeland, Trafficcentre Outdorp, Daniel Heemsteddde am Apparat.“
Das Anliegen der Anruferin ließ ihn zuerst verwundert wirken, dann beunruhigt und schließlich schaute er ziemlich genervt aus der Wäsche.
„So, so, Frau Inga Heemstedde. Wenn Du nicht meine Mutter wärest, müsste ich dich vermutlich jetzt wegen Belegung einer Notfallleitung anzeigen. Aber im Ernst: Wir haben dafür jetzt keine Zeit. Ich habe dir das beim letzten Mal doch schon gesagt… Nein, das geht wirklich nicht… Ja, ich werde schauen, was sich machen lässt… Ich rufe zurück, sobald sich die Lage hier beruhigt hat. Auf Wiederhören.“
Als er das Telefon zurück in die Station gesteckt hatte und aufsah, bemerkte er, dass er von allen Seiten interessiert gemustert wurde. Ein bisschen verärgert wischte er die greifbare Neugierde der Kollegen mit einer Handbewegung weg.
„Nur meine Mutter“, erklärte er und sorgte damit für ein kollektives Seufzen.
„Die hat wieder mal Licht im Möwennest gesehen und will eine dreiviertel Stunde vorher zwei Männer beobachtet haben, die mit einem kleinen Motorboot in Richtung des Restaurants aufgebrochen sind. Vermutlich wieder eines ihrer Hirngespinste. Und selbst wenn diesmal etwas an der Sache dran ist, bei dem Wetter können wir ohnehin keinen rausschicken, vermute ich. Mann, Mann, Mann. Die Frau hat eine Fantasie.“
„Vielleicht sollten wir mal die Notfallnummer wechseln“, knurrte der Dienststellenleiter, ein ergrauter Seebär mit Schnauzbart, dicker Knollennase und ausladendem Doppelkinn. Er trat an Daniel heran und beugte sich zu ihm hinunter.
„Der wievielte Anruf von Frau Heemstedde ist das in diesem Jahr?“
Daniel überlegte und schüttelte dann beinahe ungläubig den
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