Möwennest-Reihe Gesamtband (German Edition)
schließlich den Stift am Ende des Seilzughandstarters gefunden und herausgezogen hatte. Das Seil schnappte zurück und verschwand in einer kleinen Öffnung des Außenborders, sodass man es nur mit dem hakenförmigen Ende des Stifts wieder daraus hervorziehen konnte. Den jedoch steckte Sem unter Harrys ungläubigem Blick in die Hosentasche, zu seinem Feuerzeug und den Zigaretten. Erst dann krabbelte er auf den Steg und drückte Harry (als kleine Erinnerung an die derzeitigen herrschenden Hierarchien) etwas Metallisches in den Nacken. Es war schwer zu sagen, ob es die zweite Taschenlampe oder die Waffe war, Harry war jedenfalls keineswegs scharf drauf, es genau herauszufinden und setzte deshalb den Fuß auf die unterste Leitersprosse.
„Na, los doch!“, befahl Sem und der Aufstieg begann.
Ein halbes Dutzend Mal rutschte Harry auf den nassen Sprossen ab, trat ins Leere und drohte abzustürzen. Im letzten Moment bekam er seinen Körper dann aber doch immer wieder unter Kontrolle. Unter ihm fluchte Sem jedes Mal aufs Neue. Es waren nur acht Meter, die es zu überwinden galt, aber auf dem Weg nach oben hingen lose oder abgerissene Querstreben mit rostigen Nägeln und scharfen Kanten, die hartnäckig den Aufstieg versperrten. Mühsam versuchte Harry, sie mit der Schulter wegzudrücken oder sich daran vorbeizuschieben. Als er schließlich unterhalb einer Luke angekommen war und mit den Füßen auf einem stabilen Podest stand, fühlte er sich fix und fertig. Sein Versuch, die Luke nach oben aufzudrücken, scheiterte elendig. Die Muskeln in seinen Armen und Beinen zitterten bereits vor Anstrengung und waren nicht in der Lage, den Widerstand der hölzernen Falltür über ihm zu brechen.
Einige Sekunden später setzte auch Sem die Füße aufs Podest, das unter dem Gewicht der beiden Männer bedenklich knarrte.
Sem deutete fragend auf die Falltür. „Was ist damit?“
„Ist verschlossen oder klemmt“, gab Harry zwischen erschöpften Atemstößen Auskunft. Er stützte die Hände auf die Oberschenkel, aber das verschaffte ihm keine Linderung. Das Pfeifen seines Atems hörte man trotz der überwältigenden Geräuschkulisse um sie herum. Dieses Asthma machte ihn immer wieder fertig. Während er dort tief gebeugt darauf hoffte, dass er seinen Atem wieder unter Kontrolle bekam, bemerkte er, dass die Streben unter ihnen in einem fürchterlich schlechten Zustand waren und nicht nur das. Der zweite, nicht weit entfernte, tragende Pfeiler war übersät mit unzähligen tiefen Rissen.
„Eine tierisch instabile Bruchbude. Nicht ungefährlich“, wollte Harry sagen, aber dann wurde seine Aufmerksamkeit von etwas anderem eingenommen. Auf dem Boden unmittelbar neben ihm entdeckte er eine Möwe. Es war unmöglich zu sagen, ob der Vogel dort vorher schon gesessen hatte oder gerade erst gelandet war. Harry stutzte allerdings nicht allein wegen des plötzlichen Erscheinens des Tieres. Viel mehr verwirrte ihn sein Erscheinungsbild, denn es war augenscheinlich keine gewöhnliche Möwe. Zwar wies sie einen ähnlichen Körperbau auf. Dieser Vogel allerdings war schwarzgräulich, hatte einen extrem scharfen, spitzen Schnabel, und er war größer als alle Artgenossen, die der dicke Touristenführer davor je zu Gesicht bekommen hatte. Harry leuchte das Tier mit der Taschenlampe an, um besser sehen zu können. Der Lichtkegel streifte über das Gefieder, bis er den Vogel voll erfasst hatte.
Vor Schreck fiel Harry beinahe hintenüber. Dem Tier fehlte ein großer Teil der einen Gesichtshälfte. Da, wo das Auge hätte sein sollen, klaffte ein blutverschmiertes schwarzes Loch, das sich hinunter bis zum Hals des Vogels zog. Das Viech war verletzt und schien nicht sonderlich erfreut über Harry Romdahls Anwesenheit zu sein. Aggressiv pickte es auf den Boden, plusterte sich auf und gab ein totengleiches Krächzen von sich. Es wiederholte die Prozedur mehrmals und hüpfte mit jedem Mal ein wenig näher heran.
„Sem. Hey, Sem! Siehst du den Vogel?“
Zuerst antwortete der Mann an Harrys Seite nicht, dann zischte er schließlich. „Welches von den tausend Viechern?“
Harry richtete sich mühsam auf.
„Wie meinst du das?“, wollte er fragen, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken, als er mit der Taschenlampe umherleuchtete.
Überall auf den Querstreben und Stützbalken über ihnen saßen schwarze Vögel, plusterten sich aggressiv auf und hackten mit den Schnäbeln.
Wo zum Teufel kommen die so plötzlich her?
„Das ist nicht gut, gar
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