Möwennest-Reihe Gesamtband (German Edition)
Krankenpflegerin. „Es ist keine große Sache gewesen. Ein paar Schaulustige haben in den letzten Tagen die Aufräumarbeiten verfolgt. Der eine oder andere Sender hat sich die Mühe gemacht, darüber zu berichten. Alles in allem ist es kaum ein Thema gewesen.“
„Und was ist mit Ari Sklaaten?“, fragte Harry abschließend, bevor die Pflegerin zur Schichtübergabe musste.
„Ari Sklaaten? “, fragte sie. „Nie gehört den Namen, tut mir leid.“
„ Umso besser“, murmelte Harry, drückte seinen Kopf ins Kissen und zog die Decke bis zum Kinn. Sie errötete leicht. „Ich muss jetzt leider wirklich zur Übergabe.“
„Umso besser“, wiederholte er . Die Pflegerin warf ihm einen schiefen Blick zu und verließ das Zimmer.
Harry war erschöpft. Die Augen wollten ihm zufallen und er trieb unausweichlich einem tiefen Schlaf entgegen. Es war nur natürlich, dass er sich so matt fühlte. Außerdem war er irgendwie durch den Wind. Was er für die Realität gehalten hatte, war ein einfacher böser Streich seines Gehirns gewesen. Konnte man das glauben? Der Gedanke beruhigte und beunruhigte ihn gleichermaßen. War das möglich? Es musste so sein. Er hatte Dinge erlebt, die so unwahrscheinlich waren, dass sie bei Tageslicht betrachtet gänzlich ausgeschlossen so passiert sein konnten.
Freilich war es besser so. Die Realität war zwar befremdlich, weil er überall die Schmerzen spürte und sich an jedes kleine Detail der letzten Tage erinnern konnte, andererseits …
Was ist nun Wahrheit und was ist Traum? fragte Inga Heemsteddes Stimme unvermittelt in seinem Kopf.
G laubst du mir, wenn ich dir sage, dass du in einer Zwischenwelt wandelst, die dir dein Gehirn als Wahrheit anbietet, weil sich dein Unterbewusstsein fürchtet, in die richtige Welt zurückzukehren, weil dort Schwierigkeiten auf dich warten?
„Ich bin vor ein paar Stunden erst aufgewacht. Wieso sollte ich das also tun?“, fragte Harry skeptisch und setzte sich auf. Die Müdigkeit war verflogen.
Ingas Stimme beantwortete die Frage mit einer Gegenfrage.
Bist du ganz sicher, dass du aufgewacht bist? Die Realität hält vielleicht kein weiches, weißes Bett für dich bereit. Keine Krankenpflegerin, die dich weder kennt noch irgendwie mit dir verwandt ist. Keinen Ari Sklaaten, der spurlos verschwunden ist und von dem niemand etwas weiß, sodass er dich unmöglich in Verlegenheit bringen könnte. Keine Inga Heemstedde, die munter und gesund in ihrem Blumenladen sitzt, Tee mit einem Schuss Scotch trinkt und weder mit durchgeknallten Möwen noch mit irgendwelchen Sandbankflüchen zu schaffen hat..
„Das ist völlig verrückt“, brauste Harry auf und warf die Bettdecke von sich. Es war ohnedies schwierig genug, nach so viel wirrem Hin und Her, einen einigermaßen klaren Kopf zu bekommen. Da war die Stimme einer alten, schlitzohrigen Blumenhändlerin wenig hilfreich. Seine Augen wanderten durchs Zimmer. Es war ein ganz gewöhnliches Krankenhauszimmer. Keine Anzeichen für irgendetwas Irreales weit und breit.
So? Ist es das?
„Herrje! Ja, das ist es.“
Was geschehen ist, kann keine Fantasterei, die sich dein Hirn zusammenspinnt, zurückdrehen. Niemand stellt die Uhr auf null, Harry Romdahl.
„Ich träume nicht und ich fantasiere nicht“, sagte Harry hitzig.
Bist du dir da wirklich sicher?
Harry rang nach Worten:
„Natürlich bin ich mir sicher“, sagte er endlich. Inga ließ nicht locker.
Und wieso läuft die Uhr an der Wand rückwärts? Wieso steht auf der Titelseite der Zeitung auf deinem Nachttisch etwas über den Weltmeister im Trüffelschweinweitwurf. Und - verflixt noch mal! - wieso sitzt auf dem Fensterbrett ein orangefarbener Pelikan mit einem Partyhut auf dem Kopf?
Harry starrte zur Uhr an der weißen Wand am Fußende des Bettes. Sie lief rückwärts. Sein Blick huschte über die Zeitung. Trüffelschweinweitwurfweltmeister mit neuem Rekord von 17,17 Metern , titelte das Blatt. Harry rieb sich die Augen, dann schaute er mit gehörigem Widerstreben zum Fenster. Ein weiteres Mal rieb er sich die Augen. Wieder und wieder. Allein, es änderte nichts. Tatsächlich saß dort ein Pelikan, das Gefieder in den knalligen Farben reifer Apfelsinen. Das Tier saß ruhig auf dem Fensterbrett und glotzte ihn aus doofen Augen an. Wäre es wenigstens eine der grässlichen Möwen gewesen, die ihn in den letzten Tagen verfolgt hatten. Aber nein, es war ein Pelikan.
„Harry, aufwachen. Harry, aufwachen“, trötete das Tier und dann: „Harry Romdahl,
Weitere Kostenlose Bücher