Möwennest-Reihe Gesamtband (German Edition)
riskieren, versuchte sich Inga herumzudrehen und wieder einzuschlafen. Vor ihrem inneren Auge erschien das Gesicht der geschunden Frau. Ausdruckslos starrte es sie an und wartete.
Ingas Hoffnungen, die Fratze würde nach kurzer Zeit verschwinden, erfüllten sich nicht. Nach wenigen Minuten ertrug sie den bohrenden Blick nicht mehr und öffnete die Augen. Sie gab es auf, verwarf alle Gedanken ans Schlafen und quälte sich aus dem Bett. In ihren Morgenmantel gehüllt schlurfte sie in die Küche. Obwohl sie nicht wissen wollte, wie spät oder früh es war, huschte ihr Blick zur Uhr über dem Hintereingang. 3:32
Inga gähnte bevor sie erschrak. Das Telefon klingelte. Einmal, zweimal, dreimal, viermal, dann verstummte es kurz und klingelte erneut, pausenlos.
Verflixt noch mal, wer ist das?
Und dann war es wieder da, das vertraute Zwicken im Magen. Die um den Schlaf gebrachte Blumenhändlerin zögerte danach nur noch kurz, nahm den Hörer ab und das mulmige Gefühl enttäuschte sie nicht. Es arbeitete wie ein Uhrwerk.
„Äh, ja. Hallo, Frau Heemstedde. Äh, hier ist Ari … Ari Sklaaten. Sorry, äh, dass ich jetzt anrufe, aber es ist … es … “, der Sternekoch hörte sich völlig aufgekratzt an.
„Tief durchatmen, Sklaaten. Sonst kapiere ich überhaupt nichts“, entgegnete Inga.
Der Mann fing sich etwas und dann umriss er in weniger Worten, weswegen er anrief.
„Hören Sie, Inga, äh, Frau Heemstedde. Wir … Ich habe grade etwas gefunden. Ich glaube, dass … Nein anders … Also jedenfalls ist das richtig gruselig. Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache. Erinnern Sie sich? Sie hatten mir von dieser Sache erzählt, diese Geschichte von vor über zweihundert Jahren mit den Hinrichtungen auf der Sandbank und den Sachen mit den abgehackten Händen und mit dem … Fluch.“
Das letzte Wort brachte er nur zögernd im Flüsterton heraus, ehe er eine Pause machte und Ingas Reaktion abzuwarten schien. Als Inga auch nach endlos langen Sekunden nichts entgegnete, sagte er ihr, was er wollte.
„Ich habe recherchiert und brauche dringend Ihre Hilfe oder viel mehr Ihre ehrliche Meinung.“
„Nur zu“, gähnte Inga. Sie wusste beim besten Willen nicht, welche Hilfe sie in diesem Fall noch bieten sollte. Der Kerl hatte ihre Warnungen einfach in den Wind geschossen und damit begonnen seinen törichten Lebenstraum zu verwirklichen, aber da sie sowieso wach war und nicht mehr schlafen konnte, war sie bereit sich seine Geschichte anzuhören. Das war immer noch besser, als stumm in einer verwaisten Küche zu sitzen.
„Klasse. Macht es Ihnen etwas aus, wenn Sie sofort vorbei kämen?“
„Wohou, Wohou, Wohou“, bremste Inga, das ging doch einen Schritt zu weit. „Wie wäre es, wenn Sie mir einfach sagen, was Sache ist?“
„Geht nicht“, beharrte Ari. „Sie müssen sich etwas ansehen.“
Er bettelte noch ein bisschen weiter und schließlich ließ sich Inga breitschlagen.
„Also gut. Wo muss ich hin?“
„Ich schicke einen Wagen. Wir treffen uns im Leuchtturm von Zierikzee. Ich bin hier auf ein kleines Archiv mit historischen Aufzeichnungen gestoßen.“
Mehr ließ er sich nicht entlocken, verabschiedete sich und die Leitung war tot.
***
Der versprochene Wagen fuhr vor, als Inga durch die Vordertür in die Nacht trat. Es war eine schwarze Oberklasselimousine mit verdunkelten Scheiben und wirkte nicht gerade seriös. Es sah aus, wie eines dieser Fahrzeuge mit denen amerikanische Geheimdienstler oder Gangster in Hollywoodfilmen durch die Gegend jagen. Darüber hinaus war er zweifelsohne bereits vor dem Telefonat losgeschickt worden.
Trotz allem ließ sich Inga nicht abschrecken. Sie war eine toughe Frau, die wusste, wie man sich wehrte. Ein Mann stieg aus, hob zum Gruß kurz die Mütze und öffnete ihr die hintere Autotür. Sie ließ sich nicht zweimal bitte und stieg ein.
Das Auto schoss durch die Nacht. Der Chauffeur war ein junger Mann in Alltagsklamotten (Bluejeans, weißer Strickpullover und als Zeichen seiner Profession eine alberne Chauffeurmütze auf dem Kopf), der einen angeborenen Bleifuß hatte. Er redete nicht viel, konzentrierte sich dafür umso mehr auf die Straße. Für die knapp zwanzig Kilometer benötigte er keine viertel Stunde. Am Leuchtturm ließ er Inga aussteigen, stellte den Motor ab und drückte eine Kassette mit Discofunkmusik ins Kassettendeck. Vom Vollgas- hatte er binnen zwei Sekunden auf den Pausenmodus geschaltet.
Am Leuchtturmeingang wartete ein alter
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