Möwennest-Reihe Gesamtband (German Edition)
dir helfen, wenn ich nicht mal weiß, um was es dabei geht und wie die Hintergründe sind. Fang an. Wir werden sehen, ob es etwas bringt.“
Die Züge in Ingas Gesicht veränderten sich. Sie rang sich ein Lächeln ab, leerte ihre Tasse, sagte: „Also gut“, und begann.
„Einiges weißt du schon. Ich habe es dir erzählt, vielleicht ein bisschen dick aufgetragen, aber es entsprach in großen Teilen der Wahrheit. Es gibt allerdings einige Ereignisse, von denen du Nichts weißt. Im Winter 1979…“
Kapitel 4
Winter 1979, Schouwen-Duiveland
Zwei Monate waren vergangen, seit Ari Sklaaten in Ingas Blumenladen aufgetaucht war. Seitdem hatten sie nur noch einmal länger telefoniert. Ari hatte Besorgnis geäußert und gleichzeitig versichert, dass er eine Lösung finden würde. Seine letzten Zweifel schienen jedenfalls verflogen zu sein.
Sie hatte mitbekommen, dass er trotz aller Warnungen, das Grundstück erworben, die Baugenehmigungen erhalten und vor einer Woche mit dem Bau begonnen hatte.
Ein einzelner Schwimmbagger und ein flaches Transportschiff begannen montags, massenweise Schlick und Sand abzutragen. Dienstags meldete sich ihr sechster Sinn. Und das flaue Gefühl im Magen weigerte sich auch danach vehement wieder zu verschwinden. Nach fünf vollen Tagen vermochte nicht mal mehr ein Glas Schnaps es zu lindern. Und das war ein wahres Problem, denn sie war schlicht nicht mehr in der Lage richtig zu schlafen und wenn doch, suchte sie der Albtraum von früher heim. Es war immer der gleiche.
***
In diesem Traum ist sie wieder die Zehnjährige von damals.
Sie steht mit ihrer Puppe Susi barfuß am Strand, trägt nur ein langes Nachthemd. Es ist dunkel und sie spürt die eigene Angst mehr als die nächtliche Novemberkälte. Niemand sonst zeigt sich in der Nähe. Sie ist ganz allein und hat keine Ahnung, wie sie hergekommen ist. Die Wellen rollen unruhig über den Sand, ein Sturm treibt vom offenen Meer heran. Inga sieht die Blitze über den Nachthimmel zucken, hört den entfernt grollenden Donner und dann geschieht es. Dürre Arme ohne Hände und Finger schießen aus dem dunklen Wasser. Die Stümpfe greifen nach ihr und versuchen sie ins Wasser zu ziehen. Sie reißt sich los und kann doch nicht fort. Das Gesicht einer grässlich zugerichteten Frau taucht auf aus den Fluten. Die Frau erhebt sich, nähert sich ihr bis auf wenige Zentimeter. Der Körper ist zerschunden, die wenigen schwarzgrauen Kleidungsfetzen, die sie noch trägt, hängen nass und triefend herunter. Die Frau öffnet den Mund, weit und immer weiter. Ihre Zunge ist grau und schrumpelig, die Zähne krumm und faul, viele fehlen. In den Augen ist kein Leben, auch wenn sie weit aufgerissen sind, genau wie der Mund. Sie scheint etwas sagen zu wollen, aber anstelle von Worten folgt ein markerschütterndes Krächzen und dann bricht der pechschwarze Schnabel durch den Hals der toten Frau. Die kleine Inga umklammert ihre Puppe und ist unfähig sich zu rühren oder zu schreien. Der Vogel steckt den Kopf in die vermeintliche Freiheit. Seine roten Augen starren sie böse an und in dieser Sekunde weiß sie, sein nächstes Ziel wird ihr Hals sein. Sie ist zu geschockt, um wegzurennen und noch etwas anderes hält sie an Ort und Stelle. Ruckartig vergrößert das Tier die klaffende Wunde. Die Frau lacht kehlig, aber vielleicht ist das auch nur der heftiger werdende Wind, der in ihren aufgerissenen Rachen fährt. Das Tier hat sich unterdessen beinahe befreit. Ein Flügel flattert bereits auf und ab. Eine tonlose Stimme in ihrem Kopf befiehlt ihr, stehen zu bleiben.
Als der Zeitpunkt erreicht ist, an dem auch der andere Flügel der schwarzen Möwe zum Vorschein kommt, beginnt die Frau zu sprechen. Ihre Stimme ist das grässlichste Geräusch, das Inga je im Leben gehört hat und je hören wird. Es klingt wie eine Laubsäge, die sich durch verfaultes altes Holz frisst.
„Ich bin wieder da, Inga“, sagt sie nur, bevor der Vogel den Rest ihres Halses zerfetzt und herausstürzt. Der Kopf der Frau knickt nach hinten weg. Sie lacht, schreit und lacht wieder und wieder, völlig hysterisch …
***
Auch in der nächsten Nacht verschonte sie der Traum nicht. Und wieder, bevor der rasiermesserscharfe Schnabel ihren Hals erreicht hatte, schrak sie auf. Schweiß glänzte auf ihren Armen. Ihre Stirn war heiß und nass. Draußen herrschte völlige Dunkelheit. Die Nacht war nicht einmal annähernd vorbei. Ohne einen Blick auf den Wecker zu
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