Möwennest-Reihe Gesamtband (German Edition)
Körper ausreichend damit zu versorgen. Als er sich dann doch aufrichtete und Inga ansah, die regungslos einen Meter entfernt stand, in der rechten Hand immer noch den zerbrochenen Flaschenhals ihrer Scotchflasche, war ihm mulmig zumute. Es war dieses Gefühl, das einen überkommt, wenn man wieder einmal knapp dem Tod entronnen war, sich aber wegen der schrecklichen Sekunden des vorangegangenen Beinahesterbens über diesen Umstand nicht recht freuen kann. Harry bemerkte, wie Inga tief durchatmete, als er ihr in die Augen sah.
„Ich rechnete schon mit dem Schlimmsten“, sagte sie und ließ die Überreste der Flasche aus der Hand gleiten.
Harry blieb zunächst stumm, schüttelte nur leicht den Kopf, besah die Glassplitter und die leblose Gestalt neben sich auf der Erde.
„Schade um den guten Scotch“, murmelte er letztendlich und versuchte, aufzustehen.
Sein Kreislauf drohte bei dem Versuch zu streiken, aber Harry überwand diese Phase. Er stützte sich auf den Knien ab und atmete tief durch.
Das Adrenalin in seinem Körper wich nur langsam, verschleierte aber schon bald nicht mehr die Schmerzen, die von den Kratzspuren an seinem Hals ausgingen.
Harry stemmte sich endgültig hoch und befühlte die betroffenen Stellen. Aua!
„Ist alles in Ordnung, Harry?“, fragte Inga.
„Ich lebe noch oder?“
„Es sieht danach aus.“
„Dann ist vermutlich alles bestens. Wer zum Teufel ist das?“
Inga antwortete nicht. Harry schaute sie an und erkannte, dass das auch gar nicht nötig war. Ihr Gesicht verriet in diesem Augenblick mehr, als es das jemals zuvor getan hatte.
„Das ist doch nicht … Das glaube ich nicht …“
Harry richtete den Blick nach unten und ließ ihn über den leblosen Körper schweifen.
Der Regenmantel, natürlich!
„Sag mir, dass das nicht wahr ist, Inga. Sag mir, dass das hier nicht der ist, für den ich ihn halte.“ Harrys Stimme begann zu zittern. Inga erwiderte nichts, bückte sich, zog dem Unbekannten die Sturmhaube vom Kopf und enthüllte die Wahrheit.
„Du mieser Penner“, raunzte Harry, machte einen Schritt und trat Ari Sklaaten mit dem gesunden Fuß gegen den Rücken. Es war ein Anfall von Wut, Empörung, Emotion und Leid in einem, der ihn einfach überkam. Die Tränen traten in seine Augen und er trat erneut zu. „Wieso!“ schrie er. Inga sprang, griff mit beiden Händen nach seinen Oberarmen und hielt ihn zurück. Es war unerklärlich, wie sie das schaffte. Sie wog höchstens die Hälfte von dem, was Harry auf die Waage brachte, vermutlich noch weniger.
„Harry, Harry! Lass es gut sein. Ich bin sicher, es handelt sich um ein Missverständnis.“
„Ein Missverständnis?“, fragte Harry und zeigte auf seinen Hals. „Das nennst du ein Missverständnis! Herrje, Inga! Der hat schon wieder versucht, mich umzubringen.“
„Aber jetzt ist es vorbei. Er liegt da und rührt sich nicht. Du lebst, er liegt wehrlos auf dem Boden. Was willst du tun? Ihn umbringen?“ Sie sah ihm tief in die Augen, ihr Griff um seinen Oberkörper wurde stärker und je stärker er wurde, desto mehr kühlten sich Harrys Emotionen ab. Es fühlte sich an, als ließe jemand den Dampf aus einem unter Druck stehenden Kessel. Harry schnaufte, drei-, vier-, fünfmal durch und beruhigte sich.
„Nein, ich bringe niemanden um“, sagte er dann, seine Stimme klang matt. „Ich will nur selbst nicht umgebracht werden, verdammt.“
„Ich verstehe das“, entgegnete Inga. „Warten wir ab, ob er wieder zu sich kommt, und stellen ihn dann zur Rede. Wir können ihn dann immer noch der Polizei übergeben.“
Stille trat zwischen die Beiden und Harry Blick schweifte zwischen dem leblos vor ihm liegenden Ari Sklaaten und dem faltigen Gesicht der neben ihm stehenden Inga Heemstedde. Inga hatte ihm erzählt, dass sie unbedingt wissen mussten, was Sklaaten wusste und wie er Margareta van Buuren daran gehindert hatte zurückzukommen. Irgendwie war also klar, dass Inga nicht im Geringsten dafür Sorge tragen würde, dass Ari in die Hände der Gesetzeshüter geriet.
Er nickte dennoch. Was blieb ihm auch anderes übrig?
„Ist gut.“
„Danke, Harry. Ich bin sicher, es wird sich alles klären. Ich habe im Badezimmer einen kleinen Medizinkoffer stehen. Ich schlage vor, du siehst zu, dass du etwas findest, um die Schmerzen zu lindern. Ich kümmere mich um Ari.“
„Okay“, sagte der Geschundene, ging mit hängendem Kopf durch die Küche, was das Knirschen von Glassplittern unter seinen Schuhen nach sich
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