Mond über Manhattan
Kinder der Liebe», sagte er, «aber nur die besten nennt man auch so.»
Der ältere Bruder meiner Mutter war ein dürrer, einundvierzigjähriger Junggeselle mit Hakennase, der seinen Lebensunterhalt als Klarinettist verdiente. Wie alle Foggs war er ein eher planloser und verträumter Mensch, sprunghaft und lethargisch. Eben diese Eigenschaften machten seiner verheißungsvoll angelaufenen Karriere beim Cleveland Orchestra schließlich ein Ende. Er verschlief Proben, tauchte ohne Krawatte zu Vorstellungen auf, und einmal besaß er die Frechheit, in Hörweite des bulgarischen Konzertmeisters einen schmutzigen Witz zu erzählen. Nach seinem Hinauswurf trieb er sich bei einer Reihe kleinerer Orchester herum, jedes ein bißchen schlechter als das vorangegangene, und als er 1953 nach Chicago zurückkam, hatte er sich mit der Mittelmäßigkeit seiner Leistungen abzufinden gelernt. Als ich im Februar 1958 bei ihm einzog, gab er Anfängern Klarinettenunterricht und spielte bei Howie Dunns Moonlight Moods, einer kleinen Combo, die bei Hochzeiten, Konfirmationen und Abschlußfeiern auftrat. Victor wußte, daß es ihm an Ehrgeiz fehlte, er wußte aber auch, daß es auf der Welt noch anderes gab als Musik. Ja, es gab so vieles, daß es ihn oft schier überwältigte. Er gehörte zu den Menschen, denen ständig etwas anderes einfällt, während sie gerade mit etwas beschäftigt sind; er konnte sich nicht hinsetzen und ein Stück üben, ohne zwischendurch ein Schachproblem zu durchdenken, er konnte nicht Schach spielen, ohne gleichzeitig über die Schwächen der Chicago Cubs nachzudenken, im Baseballstadion grübelte er über irgendeine Nebenfigur bei Shakespeare, und wenn er schließlich nach Hause kam, konnte er keine zwanzig Minuten mit dem Buch stillsitzen, weil es ihn nun wieder zur Klarinette hinzog. Wo immer er also war, und wohin auch immer er ging, stets hinterließ er eine chaotische Spur von schlechten Schachzügen, unbeendeten Spielberichten und halb gelesenen Büchern.
Es war jedoch nicht schwer, Onkel Victor zu lieben. Zwar war das Essen schlechter als bei meiner Mutter und unsere Wohnungen schäbiger und beengter, doch war derlei auf lange Sicht nebensächlich. Victor spielte sich nicht als jemand auf, der er nicht war. Er wußte, daß er kein Vater sein konnte, und behandelte mich daher weniger wie ein Kind als wie einen Freund, einen heißgeliebten Miniaturkumpel. Damit kamen wir beide gut zurecht. Binnen eines Monats nach meiner Ankunft hatten wir bereits ein Spiel entwickelt, in dem es darum ging, sich Länder auszudenken, imaginäre Welten, in denen die Naturgesetze auf den Kopf gestellt waren. Einige der besseren brauchten Wochen zu ihrer Fertigstellung, und die Karten, die ich davon zeichnete, hingen an einem Ehrenplatz über dem Küchentisch. Das Land des Sporadischen Lichts, zum Beispiel, und das Königreich der Einäugigen. Angesichts der Schwierigkeiten, vor die uns die reale Welt stellte, war es wohl ganz verständlich, daß wir ihr so oft es ging den Rücken kehrten.
Nicht lange nach meiner Ankunft in Chicago nahm Onkel Victor mich mit in eine Vorstellung des Films In achtzig Tagen um die Welt. Der Held dieser Geschichte hieß natürlich Fogg, und von diesem Tag an hatte ich bei Onkel Victor den Kosenamen Phileas - eine heimliche Anspielung auf jenen seltsamen Augenblick, «als wir uns auf der Leinwand begegneten», wie er sich ausdrückte. Onkel Victor liebte es, sich zu irgendwelchen Themen kunstvollunsinnige Theorien auszudenken, und er wurde nicht müde, mir die in meinem Namen verborgenen Herrlichkeiten auseinanderzusetzen. Marco Stanley Fogg. In seinen Augen bewies dieser Name, daß mir das Reisen im Blut steckte, daß das Leben mich an Orte führen würde, an die kein Mensch zuvor einen Fuß gesetzt hatte. Marco stand selbstredend für Marco Polo, den ersten Europäer, der China besucht hatte; Stanley stand für den amerikanischen Journalisten, der Dr. Livingstone «im Herzen des dunkelsten Afrikas» aufgespürt hatte; und Fogg stand für Phileas, den Mann, der in weniger als drei Monaten um den Globus gehetzt war. Es spielte keine Rolle, daß meine Mutter mich einfach deshalb Marco genannt hatte, weil ihr der Name gefiel, oder daß mein Großvater Stanley geheißen hatte, oder daß Fogg auf den Irrtum, die Laune eines schreibfaulen amerikanischen Beamten zurückzuführen war. Onkel Victor fand Bedeutungen, wo kein anderer welche gefunden hätte, und nutzte sie dann sehr geschickt, um mich
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